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Louis AnquetinFemme à la voilette, 1891Öl auf Leinwand, 81 x 55 cm.

© Privatsammlung, courtesy of D. Nisins

Ausstellung "Esprit Montmartre": Der Hügel und die Huren

Der Montmartre galt als Paradies der Bohème. Die Ausstellung "Esprit Montmartre" in der Frankfurter Schirn zeigt nun, dass auf dem Hügel über Paris neben der Kunst vor allem Armut und Anarchie zuhause waren.

Das Herz des Quartiers schlägt im dunklen Hügel. Auch wenn sich Sacré-Coeur de Montmartre wie eine weiße, monströse Torte über jenen Berg erhebt, dem Paris im späten 19. Jahrhundert seinen Ruf als Paradies der Bohème verdankt. 1875 aber, als die prächtige Kirche aus dem lehmigen Untergrund emporwuchs, war ihr Bau ein Affront für die Bewohner: der Versuch der Oberen, endlich Ordnung in ein Viertel zu bringen, das von Armut und Anarchie geprägt war. Ein Refugium für Kleinkriminelle mit Gärten, Hühnerställen und billigen Unterkünften. Ein perfekter Nährboden für Künstler wie Vincent van Gogh, der das urbane Paris mied. Und für Edgar Degas, Pablo Picasso oder Amedeo Modigliani, die hier eine Weile lebten und sich mit Ideen versorgten.

Was ein Kritiker um 1890 als „riesiges Atelier“ beschrieb, in dem es vor Kreativität nur so krachte, war allerdings viel mehr. Eine Amüsierstube, wo sich das bürgerliche Publikum exzessiv fühlen durfte. Und Alternative für alle, die von der architektonischen Radikalität der Haussmannschen Umbaupläne, von den breiten Schneisen für die Boulevards und repräsentativen Häusern im vormals mittelalterlichen Paris, an den Rand gedrängt wurden. Es kamen Arbeiter, Bettler, Gaukler, Prostituierte.

„Esprit Montmartre“, die große Ausstellung in der Frankfurter Schirn, versucht dem janusköpfigen Charakter des Areals gerecht zu werden. Hilfe leisten die Künstler, in deren Werk das Dissonante jener Zeit aufgehoben ist. Man muss bloß genau hinschauen, um es zwischen den delikaten Farbaufträgen des späten Impressionismus und Kubismus zu entdecken. Knapp 200 Werke, darunter Gemälde und Zeichnungen aus internationalen Museen oder Privatbesitz, entzaubern den mythischen Ort mit ästhetischen Mitteln. Darunter finden sich Ikonen wie die originalen Plakate von Henri de Toulouse-Lautrec, der 1891 zum ersten Mal für das Moulin Rouge arbeitete – und ein Plakat entwarf, das 3000 Mal in ganz Paris geklebt wurde. Werbung nicht zuletzt für den Künstler, der schlagartig bekannt wurde.

Picasso, Toulouse-Lautrec, Modigliani: Werke mit Blockbuster-Qualitäten

Auch Picassos Porträts von Artisten und Absinth-Nächten, intime Bordellszenen von Toulouse-Lautrec oder Modiglianis feines Frauenbildnis „Le Mendiante“ (1909) sind darunter. Werke mit Blockbuster-Qualitäten. Schön anzuschauen, hier aber zusätzlich mit dem Anspruch eines Korrektivs versehen, das mit jeder neuen Information Konturen gewinnt. Viel zu sehr hat sich der Schleier der Verklärung über die „Butte“, das Hügelchen im Norden der Stadt gelegt, wo die Fantasie bloß noch zwischen Degas’ graziösen Tänzerinnen und den Cabarets spazieren geht oder das freie Leben der Maler bewundert. Dabei wucherte in Montmartre zugleich ein Armenviertel oberhalb der Vergnügungsmeile, das die Pariser Polizei nach Möglichkeit mied.

„Esprit Montmartre“ zeigt zum Auftakt historische Fotografien, die Parallelen mit den Favelas von heute aufweisen. Und sagt nicht schon Bateau-Lavoir als Name für jene fünfstöckige Holzbaracke in der Rue Ravignan, wo neben Picasso auch Juan Gris, Modigliani oder Otto Freundlich unterkamen, in welcher Gegend man sich bewegte? Es war das Quartier der schlecht bezahlten Wäscherinnen, die sich montags auf dem Markt für Malermodelle anboten und anderntags als Teilzeithuren. „Die Arbeiterin kann zwischen zwei Möglichkeiten wählen“, schreibt Zola, „Prostitution oder Hunger und langsamer Tod“.

Absinth-durchtränkte Nächte: Im Bann der grünen Fee.

Die Künstler zog es aus unterschiedlichen Verhältnissen ins Quartier. Utrillo etwa wuchs als unehelicher Sohn der großartigen, mit mehreren Werken vertretenen Malerin Suzanne Valadon gleich in der Armut von Montmartre auf. Andere kamen aus bürgerlichen Verhältnissen und wurden wie Picasso anfangs von der Familie unterstützt. Zu den günstigen Konditionen im ansonsten unsagbar teuren Paris gesellte sich das Unkonventionelle: Wer sich nicht nach der steifen Mode der Jahrhundertwende kleiden wollte, konnte dies im Dunstkreis des Bateau-Lavoir tun. „Picasso erinnerte in seiner blauen Leinenjacke an einen Klempner. Max Jacob fiel auf durch einen mit roter Litze besetzten Umhang, den er sich aus der Bretagne mitgebracht hatte“, heißt es in einer Erinnerung. Es gab auch Gegenentwürfe: Erik Satie etwa, der ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen in Montmartre lebte und im Chat Noir Klavier spielte. Ein großes Gemälde von Ramon Casass zeigt ihn 1891 mit schwarzer Jacke, Monokel und Zylinder. Der Komponist kultivierte die bürgerliche Montur. Selbst wenn seine Kleidung geflickt war.

Von Moulin Rouge bis Chat Noir

All das erfährt man aus den Bildern und dank der Informationen zu jedem Kapitel. Während auf August Chabauds Straßenbildern anfangs Reklame die Nacht farbig erleuchtet, zeigt er 1907 auf einer Skizze die „Hommes-sandwichs“: Männer ohne Arbeit, die als lebende Plakate durch die Straßen ziehen. Kees van Dongen zeichnet um 1902 eine Frau, die mit ihren langen Röcken auf dem Pflaster gelandet ist – im Gespräch mit einem Schädel. Ein Albtraum, genährt aus jenem Stoff, der im Moulin Rouge wie im Chat Noir in Strömen floss. Und realistisch. Denn die „grüne Fee“, der billige Absinth mit seinem hohen Alkoholanteil, ließ seine Konsumenten schnell abhängig werden. Zumal er das Hungergefühl betäubte und dafür sorgte, dass ein Künstler wie Maurice Utrillo erst mit Modigliani um die Wette trank. Und danach seine Gemälde, von denen „La Maison Rose, rue de l’Abreuvoir à Paris“ (um 1912) zu sehen ist, für nahezu umsonst weggab.

Théophile SteinlenLe 14 juillet, 1895Öl auf Leinwand, 38 x 46 cm.
Théophile SteinlenLe 14 juillet, 1895Öl auf Leinwand, 38 x 46 cm.

© Association des amis du Petit Palais Genève

So kreuzen sich private Schicksale mit dem Nutzen, den andere aus der Bedürftigkeit der Montmartre-Bewohner zogen. Es war ein Geben und Nehmen, ein Netzwerk, zu dem sich bald erste Kunsthändler gesellten: Trödler wie knallharte Galeristen – oder jemand wie Berthe Weill, eine echte Liebhaberin mit großem Gespür und geringen finanziellen Erfolgen. Ihnen gilt das letzte Kapitel der Ausstellung, bevor die Künstlerbagage nach 1918 den Montparnasse erobertet. Doch die Intensität der Motive von Montmartre, ihr Charme und die Härte der Sujets lassen einen nicht so schnell wieder los.

„Esprit Montmartre“, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, bis 1. Juni, Di und Fr-So 10-19 Uhr, Mi und Do 10-22 Uhr

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