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Ausstellung "Soma": Am Pilz der Zeit

Menschen, Tiere, Halluzinationen: Carsten Höllers Museumsschau im Hamburger Bahnhof in Berlin markiert den vorläufigen Höhepunkt an Extravaganz.

Ein bisschen irre muss der Direktor der Nationalgalerie schon gewesen sein, als er sich auf dieses Experiment einließ. Zumindest so verrückt wie der Künstler, den er eine solche Versuchsanordnung in seinem Museum aufbauen ließ. Carsten Höller hat bereits seinen Ruf als mad scientist in der Kunstwelt weg; Udo Kittelmann dürfte fortan als der crazy curator gelten. Mit der Ausstellung „Soma“ im Hamburger Bahnhof markieren die beiden den vorläufigen Höhepunkt an Extravaganz, der in einem Museum zu erreichen ist.

Rentiere aus der Uckermark äsen in der Historischen Halle, sechs rechts, sechs links, säuberlich getrennt in zwei Gehegen, in die der große Saal in seiner Längsrichtung geteilt ist. Darüber hängen an einer Waage zwei Doppelvolieren mit jeweils sechs weiblichen und sechs männlichen Kanarienvögeln der Gattung Harzer Roller und Timbrado Espanol. Eine Anzeige in der Mitte hält zentimetergenau fest, ob sich ein Käfig mal zur einen, mal zur anderen Seite neigt. Ferner sind auf jeder Seite zwei Käfige – der eine schwarz, der andere weiß – aufgebaut, jeweils mit einem Mäusepärchen darin – natürlich schwarz und weiß –, das sich in einem verkleinerten Nachbau eines Pariser Spielplatzes der fünfziger Jahre vergnügen darf. Nicht zu vergessen die Plexiglasvitrine, ebenfalls eine rechts und eine links, jeweils mit einer fetten Stubenfliege darin, die von einer Kamera überwacht wird.

Dem Betrachter bietet sich ein Tableau vivant im wörtlichen Sinne, ein real lebendes Bild, das er eigens von einer Empore studieren kann. Nach dem Tumult an Eindrücken, Vogelzwitschern, Hufescharren, strengen Gerüchen, die der Besucher zunächst gewinnt, verbreitet die symmetrische Anordnung von dort oben aus eine Klarheit, ja wissenschaftliche Nüchternheit. Die irre Inszenierung sortiert sich: Hier ist kein Parcour der Verrücktheiten aufgebaut, sondern es wird streng miteinander verglichen, wie man es von Doppelblindverfahren in der Forschung kennt. Wie im Labor stehen zwei Probandengruppen unter Beobachtung; an der einen wird das Experiment ausgeführt, die andere zur Abgleichung der Ergebnisse „neutral“ danebengestellt.

Allein dies würde genügen, um dem Hamburger Bahnhof Aufmerksamkeit zu garantieren, denn eine Ausstellung lebender Tiere, zumindest in einer solchen Größenordnung und Zusammenstellung, hat es noch nicht gegeben. Doch Carsten Höller geht es nicht ums Spektakuläre, Udo Kittelmann nicht ums Event, zumindest vorderhand. „Soma“ erzählt auch die Geschichte einer Suche: nach sich selbst, der eigenen Wahrnehmung, Möglichkeiten der Betrachtung von Kunst – und als größten Kick, die Begegnung mit dem Göttlichen im Rausch. Denn Soma ist zugleich die Bezeichnung für einen mythischen Trank, der im Rigveda beschrieben wird, der ältesten der vier Gründungsschriften der hinduistischen Gottheiten aus dem 2. Jahrtausend vor Christus.

„Wir haben das Soma getrunken; wir sind unsterblich geworden, wir haben das Licht gesehen; wir haben die Götter gefunden,“ heißt es darin. Nur leider ging bei der Wanderung der indogermanischen Nomaden das Rezept für diesen genialen Drink verloren. Seit dem 19. Jahrhundert versuchen Sprachwissenschaftler, Botaniker, Ethnologen, Ethnomykologen, ihn wieder zu finden. Carsten Höller steht in einer großen Tradition der Wahnsinnigen, die mit heiligem Ernst faktisch herauszufinden streben, was auf Fiktion beruht. Der 1961 in Brüssel geborene deutsche Künstler, der seit vielen Jahren in Stockholm lebt, ist der beste Mann dafür, um durch Verwirrung der Sinne Klarheit zu gewinnen.

Der studierte Agrarwissenschaftler hat sich 1993 in Phytopathologie habilitiert, genauer: der Geruchskommunikation zwischen Insekten. Um die gleiche Zeit muss der Forscher mit der nüchternen Wissenschaft gebrochen haben, verkehrte sich für ihn der Wahn der Objektivierbarkeit von Ergebnissen, die vermeintlich neutrale Laborsituation, ins Gegenteil. Der Wissenschaftler suchte fortan sein Heil in der Kunst, wo er ähnlich klare Fragen wie in seinem anderen Leben stellt: Was ist Glück? Wie leben wir zusammen? Wodurch entstehen Gefühle? In seinen Ausstellungen sind nun allerdings Museumsbesucher die Probanden. Sie dürfen die Ergebnisse sogleich an sich selbst studieren: Höller lässt sie Riesenrutschen runtersausen, wie zuletzt in der Turbinenhalle der Tate Modern in London. Auf der Documenta X 1997 in Kassel hielt er ihnen im „Haus für Schweine und Menschen“ einen Spiegel des eigenen sozialen Verhaltens vor. Zwei Jahre später, in den Berliner Kunst-Werken, schickte er sie in seinem „Sanatorium“ auf die Massagebank.

All diese Installationen lösen Begeisterung aus, wie es auch mit „Soma“ im Hamburger Bahnhof geschehen wird, besitzen sie doch den unschlagbaren Mitmach-Effekt. Doch Höller geht es nicht um die viel zitierte Erweiterung des Kunstbegriffs, den Ringelpiez, den man auch hinter der Einladung vermuten könnte, im Hamburger Bahnhof inmitten des Rentiergeheges zwischen den Volieren für 1000 Euro die Nacht verbringen zu dürfen. Höller sucht das Mehr, die Quintessenz der Kunst und gibt ihr mit „Soma“ sogar einen Namen.

Das Experiment im Hamburger Bahnhof besteht darin, dass den Rentieren womöglich Fliegenpilze verabreicht werden, die am Rande des Geheges in Kühlboxen aufbewahrt werden, die der Minibar eines Hotels gleichen. Für die Tiere ist dies keine ungewöhnliche Kost. Nach letzten Erkenntnissen soll der anschließend ausgeschiedene Urin als psychoaktives Getränk sogar für Menschen bekömmlich sein. Doch Professor Höller, der 1995 in einer Ausstellung bei Esther Schipper, seiner Berliner Galeristin, wagemutig die Wirkung von Fliegenpilzen an sich selbst probierte, lässt sich nicht in die Karten schauen. Das Publikum erfährt nicht, ob die Kanarienvögel, Mäuse, Fliegen ins Experiment einbezogen sind, welche Gruppe die berauschenden Flüssigkeit bekommt.

Der Betrachter soll seine eigenen Schlüsse ziehen, Beobachtungen machen – warum ausgerechnet die eine Fliege immer wieder auf den Rücken fällt, die Kanarienvögel in der rechten Voliere besonders laut tirilieren oder sich das Leittier der Rentiere auf der linken Seite so aggressiv verhält. Das Museum offenbart sich hier als Feld der Vorstellungen, des Imaginären. Nur hat dies bislang noch niemand so deutlich gemacht, ausgerechnet mit harten, genauer: lebenden Tatsachen.

Die Ausstellung „Soma“ zeigt, wie stark die Kunst vom Wunsch beseelt ist. Rentiere, Fliegenpilze, das passt auch in die Vorweihnachtszeit. Schließlich kommt Santa Claus mit Hilfe eines Rentieres von oben zu den Menschen herab. Sein roter Mantel mit dem weißen Kragen erinnert nicht von ungefähr an das Fliegenpilzkleid. Mythisches und Versatzstücke der modernen Forschung, Kunst und Klamauk, Glaube und Versprechen der Wissenschaft rücken in Carsten Höllers raumgreifendem Werk aufs Engste zusammen. Für diese Erkenntnis braucht es jedoch keine Droge. Diesen Glückspilz hat jeder Besucher selbst zur Hand.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, bis 6. 2., Di-Fr 10-18, Sa 11-20, So 11-18 Uhr. Katalog (Hatje Cantz) 15 €. Die Schering-Stiftung, Unter den Linden 32-34 (Mo-Sa 11-18 Uhr) zeigt bis 8. 1. die Installation „Rentier im Zöllnerstreifenwald“.

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