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50 Jahre Mauerbau: Die Nation hat im Innersten zusammengehalten

Millionen Deutsche im Westen mit Wurzeln im Osten trugen wesentlich dazu bei, die Nation in den Jahren der Trennung zusammenhalten - zum Beispiel Herbert Wehner und Hans-Dietrich Genscher.

Ohne die Massenflucht aus der DDR hätten Walter Ulbricht und Erich Honecker 1961 nicht die Mauer in Berlin bauen lassen und ihren Staat in ein scharf bewachtes Lager verwandelt. Ohne die Flüchtlinge wären aber auch 1989/90 das Ende der DDR-Diktatur und die deutsche Einheit in Freiheit und Frieden nicht möglich gewesen. Ihr Anteil an diesem am Ende glücklichen geschichtlichen Prozess wird oft übersehen. Allein zwischen 1957 und 1989 waren es 2,359 Millionen – über Zahlen davor verfügt das Statistische Bundesamt nicht.

Für die meisten dieser Millionen Menschen, die seit 1945 aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der 1949 daraus gemachten DDR bis zur Wende und Wiedervereinigung 1989/90 „in den Westen“ gingen oder fliehen mussten oder zuvor schon „aus dem Osten“ vertrieben worden waren, gilt die Erfahrung: Sein prägt das Bewusstsein. Und niemand kann aus seiner Verwandtschaft austreten. Das trifft auch für Politiker zu.

Das hatte politische und geschichtliche Folgen: Die Millionen Deutschen „im Westen“ mit Wurzeln „im Osten“, diese „Wossis“, trugen wesentlich dazu bei, die Nation im Innersten zusammenhalten. Gerade auch nach dem Mauerbau in Berlin und der danach immer hermetischer werdenden Veränderung der Zonengrenze zur, auch gegen die DDR-Bevölkerung, mit einer zusätzlichen Fünf-Kilometer-Zone nach innen hin abgeriegelten und hochgerüsteten „Staatsgrenze“. Diese Menschen widersprachen in ihrem Bewusstsein sowohl der in der Endzeit der DDR immer stärker gewordenen Abkehr der SED von „Deutschland einig Vaterland“, aber auch einer Gleichsetzung der Begriffe Deutsch und Deutschland mit der Bundesrepublik allein durch zu viele Westdeutsche. Denn sie wussten wegen ihrer Herkunft und der Pflege ihrer Verwandtschaften und Freundschaften, dass Deutschland nicht an Werra und Elbe endet.

Das galt für einflussreiche Bundestagsabgeordnete ebenso, nicht nur für Berliner wie Willy Brandt, Jakob Kaiser, Ernst Lemmer, Johann Baptist Gradl und Hans-Günter Hoppe oder die Abgeordneten mit der zusätzlich schmerzenden Erfahrung des Heimatverlusts in den einst deutschen Ostgebieten wie Rainer Barzel aus Ostpreußen. Oder für die beiden befreundeten Fraktionsvorsitzenden der Bonner SPD-FDP-Koalition Herbert Wehner und Wolfgang Mischnik, beide aus Dresden. Und nicht zuletzt für Hans-Dietrich Genscher aus Halle an der Saale. Um sie stellvertretend für die anderen zu nennen.

In Deutschland leben eben nicht nur „Wessis“ und „Ossis“, sondern auch „Wossis“ mit West- und Ost-Erfahrungen zugleich, und diese große Ost-West-„Wanderung“ war wirkungsvoll: Einerseits versuchte die SED der Millionen-Flucht 1961 durch die Verwandlung der DDR in ein großes, an allen Grenzen militärisch abgeriegeltes Lager mit einer vorgelagerten internen Fünf-Kilometerzone und die Einmauerung von West-Berlin Herr zu werden. Andererseits bildeten diese Fluchtbewegungen die dialektisch wirksame Gegenthese zur Behauptung, die DDR sei der Arbeiter- und Bauernstaat und eigentlich das bessere, antifaschistische Deutschland. Am Ende half 1989 die zweite große Flucht-Welle, das SED-Regime von außen in die Zange zu nehmen, fast so stark wie die friedliche Revolution im Inneren der DDR. Höhepunkte waren die mutige Öffnung der ungarischen Grenze („Deutschland, Deutschland über Ungarn“, so ein ungarischer Bonner Korrespondent) und die Ausreise der in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflohenen DDR-Bürger. Von beiden Ereignissen ist Hans-Dietrich Genscher nicht wegzudenken.

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Der junge Jurist Genscher, geboren am 21. März 1927 im heute zu Halle gehörenden Reideburg, Schönnewitzer Straße 9 im Haus seiner Großeltern mütterlicherseits, ab 1946 Mitglied der LDPD, entschied sich 1952 für den Weg in den Westen und ist seither in der FDP, war zeitweilig für viele die FDP schlechthin. Ein halbes Jahr später folgte ihm seine Mutter. Seither ließ er seine familiären Bindungen an die Heimat bis in die Sprachmelodie hinein nicht abreißen. Soeben sagte uns der in Wachtberg lebende Politiker: „War inwendig nie endgültig aus Halle weg.“

Nach dem Grundlagenvertrag mit der DDR sei er mit einer Ausnahme jedes Jahr am Sonntag vor Weihnachten zu einem Vetter nach Reideburg gefahren, „aber privat und ohne offizielles Empfangsbrimborium, wie vom DDR-Bezirk Halle gewünscht.“ Vom Mauerbau erfuhr der damals noch nicht gewählte, sondern angestellte Bonner Fraktionsgeschäftsführer der FDP, der aber politisch schon fast vom Gewicht des Parlamentarischen ab 1965 war, in seiner neuen beruflichen Heimat Bremen. Zwei Tage nach dem 13. August 1961 sei bei ihm die Ansichtskarte eines Freundes aus Halle, aber diesmal aus Hanau, angekommen. Der sei nicht nur der Liebe wegen in Hessen, sondern auch aus der Furcht: „Die Kommunisten machen nun alles dicht.“ Leider hatte der Freund Recht. Demnach hatte Genscher 1961 noch nicht mit dem Mauer-Monstrum gerechnet.

Aber Genscher antwortete dem Freund auf Dauer politisch. Denn der Außenminister der Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) von 1974 bis 1992 wurde zum Außenminister der deutschen Einheit und der europäischen Einigung und damit von Freiheit und Befreiung. Diesmal dank der Versöhnung von zuvor jeweils giftig umstrittener Bonner West- und Ostpolitik, der KSZE und des 2plus 4-Vertrages. Diesmal mit den Großmächten und Nachbarn. Nicht gegen sie wie einst bei anderen „Reichseinigern“ von 1871 und 1939. Also mit einem zum „Mann mit Ohren“ passenden „Genscherismus“. Der lässt sich auf die Formel „F plus F“ bringen: Flexibilität und Festigkeit. (Und umgekehrt).

Auch der Handwerkersohn Herbert Wehner war tief in seiner Herkunft verwurzelt. Für einen damaligen Bonner Parlamentskorrespondenten ist unvergessen, wie Wehner in einer Freudschen Fehlleistung den von ihm attackierten „Freistaat Bayern“ unter Gelächter seiner Gegner als „Freistaat Sachsen“ bezeichnete. Da explodierte er, wie so oft, und schrie (nach meiner Erinnerung): „Sie haben Ihre Heimat. Ich nicht. Gute Reise.“ Geboren wurde er am 11. Juli 1906 in Dresden, gestorben ist er am 19. Januar 1990 in Bonn-Bad Godesberg, dem Ort, von dem aus er das SPD-Programm des Wandels zur Volkspartei und damit Regierungsfähigkeit durchsetzte. Dort hat er auf dem Friedhof unter der Godesburg ein bescheidenes Grab. Er war ein vom schuldig gewordenen Kommunisten in Moskau zum SPD-Urgestein und evangelisch-lutherischen Patrioten und Demokraten in Bonn „gehäutet“. Das mag die Castor und Pollux-Partnerschaft zum Dresdner Landsmann Wolfgang Mischnik (FDP) mit begründen. Es kann kein Zufall sein, dass beide versuchten, in einem gemeinsamen Besuch bei Erich Honecker in Ost-Berlin eben nicht nur Kaffee und Kuchen zu konsumieren, sondern etwas für die deutsche Einheit und Freiheit zu tun. Ohne Herbert Wehner hätte es trotz aller internen Gegnerschaft keinen Bundeskanzler Willy Brandt und die Ostpolitik als e i n e  der Voraussetzungen der deutschen Einheit und Freiheit 1989/90 gegeben.

Den Mauerbau in Berlin und die totale DDR-Grenzabrieglung hatte Wehner, anders als Bundeskanzler Adenauer, 1961 als Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses des Bundestages sofort mit den CDU-Politikern Johann Baptist Gradl als seinem Stellvertreter und Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier in ihrer Tragweite erkannt, zumal er einen Verwandten zuvor vor dem Eingesperrtsein in der DDR gewarnt hatte, während sich Bundeskanzler Adenauer zunächst noch in der ihm am Ende schadenden Polemik gegen den an der Mauer präsenten Regierenden Berliner Bürgermeister Willy Brandt „alias Frahm“ verlor.

Nachzulesen in der genauen Biografie „Herbert Wehner“ des Historikers Christoph Meyer (dtv 2006). Der ist im Einvernehmen mit der Stifterin, der Stieftochter und Ehefrau Greta Wehner, der Kopf des „Herbert-Wehner-Bildungswerkes“, Kamenzer Straße 12 in Dresden. Greta Wehner ist nach seinem Tod nach Dresden umgesiedelt und hat dort die Herbert- und Greta-Wehner-Stiftung gegründet, deren Beirat Jürgen Schmude vorsteht und zu deren Förderern Wehners Nachfolger im Fraktionsvorsitz Hans-Jochen Vogel, Peter Struck und Frank-Walter Steinmeier zählen. Ihr letztes gemeinsames Vorhaben war eine öffentliche Podiumsdiskussion aus Anlass des 105. Geburtstages von Wehner am 9. Juli im Kulturhaus Dresden über Volksentscheide.

Heimatverbundenheit gilt auch für Genscher. Sein Geburtshaus in Halle-Reideburg, Schönnewitzer Straße 9, wurde zur „Bildungs- und Begegnungsstätte Deutsche Einheit“ umgebaut und am 25. Juni 2011 eröffnet. Träger sind die Friedrich Naumann-Stiftung und ihre für Sachsen-Anhalt zuständige Tochter, die Erhard Hübener-Stiftung, benannt nach dem ersten und einzigen Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt aus der liberalen Partei. (1946 bis 1950).

So schloss sich für Wehner und Genscher ein Kreis: Die Rückkehr zu den Wurzeln, verbindet die Weite einer Weltgesinnung mit der Nähe ihres Heimatgefühls.

Dr. Helmut Herles ist freier Journalist und lebte bis 1955 in der DDR.

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