zum Hauptinhalt
Nur er bleibt, wie er ist. Der Wasserturm am neuen Ostkreuz.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Türme (1): Wasserturm am Ostkreuz: Wahrzeichen der Wüstenei

Als die Loks noch Wasser tankten: Der Start unserer Sommerserie über Berliner Türme führt zum Wasserturm am Bahnhof Ostkreuz.

Er ist der Wächter. Der Wächter über das Wimmelbild, das Großbaustelle Bahnhof Ostkreuz heißt. Über 100 000 Menschen, die hier tagtäglich die S-Bahnen wechseln. Über ein- und abfahrende Züge, über Hetzende und Wartende, über Bratwurstbrater und Erdbeerverkäuferin, über Bagger, Laster und Bauarbeiter, über ratternde Presslufthämmer und Beton ausspuckende Gummirüssel, über vorbeibrausende Autos und zu Trauben geballte Fahrräder, über die wüste Brache wie über die neue Ringbahnhalle. Da, wo die Bahn 411 Millionen Euro verbaut. Wo seit 2006 bis mindestens 2017 kein Stein, keine Schiene liegen bleibt, da bleibt nur er so, wie er ist: der Wasserturm am Ostkreuz. Die letzten 102 Jahre zumindest.

Dunkel, schweigend, würdig schiebt er sich rechter Hand ins Bild, wenn man mit der S-Bahn in östlicher Richtung stadtauswärts fährt. Ein Zeuge markanter Industriearchitektur, alte Eisenbahnherrlichkeit mit Fernwirkung, ein vertikales Versprechen in horizontalem Stumpfsinn, ein Friedrichshainer Wahrzeichen. Von der Berliner Eisenbahnverwaltung nach Entwürfen von Karl Cornelius gebaut, die geschwungene Haube mit der kecken Kupferspitze stilistisch vom Jugendstil beeinflusst, gut 50 Meter hoch, denkmalgeschützt.

Da mal hinein, da mal hinauf! Ein Traum wird wahr

Stolz und abweisend, ja geradezu vernagelt sieht er aus, wenn man am Ende der Bahnhofshalle stehend den mit violetten Klinkern verblendeten Schaft emporschaut. Der Wächter ist wehrhaft. Doch nicht widerständig genug für die Zeit, den Wind, den Ruß. Sie haben dem Turm ein paar Schieferschindeln und den glasierten Schimmer geraubt.

Da mal hinein, da mal hinauf! Seit so vielen Jahren ist das ein Traum. Und jetzt wird er endlich wahr. Dank Sommerserie und Dank der Deutschen Bahn, genauer der DB Netz AG. Erstaunlich zügig hat Cord Meyer, Leiter Immobilienmanagement Ost, die Turmbesteigung angesetzt und sich dazu theatralisches Equipment erbeten: alte Kleidung, feste Schuhe und Taschenlampe. Herr Meyer selbst erscheint im Businessanzug am Treffpunkt rote Infobox. Den Schlüssel zum Turm schon in der Hand. Es ist nicht sein erster Besuch. Die Bahn verkauft den Wasserturm. Gegen Höchstgebot. 30 bis 40 Interessenten gebe es, sagt Herr Meyer. Noch zwei Tage lang – bis zum 8. Juli – kann man ein Kaufangebot unterbreiten, aber nur schriftlich und mit Nutzungskonzept. Zu welchem Preis? Herr Meyer zuckt die Schultern. Verhandlungssache. Er hat um die 50 Wassertürme in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern im Angebot. Die meisten längst nicht so prominent platziert wie dieser – direkt am zukünftigen Regionalbahnhof, am neuen Wohnquartier Ostkreuz. Da soll nicht der Preis, sondern das Konzept entscheiden. Das Schmuckstück soll in altem Glanz erstrahlen, ja quasi die Bahninvestition krönen, hofft Herr Meyer. „Es soll der Kulminationspunkt des neu erstandenen Ostkreuzes werden.“

Über die Baustelleneinfahrt an der Hauptstraße geht es durch Brennnesseln und Brombeergesträuch zu einer Tür am hinteren Turmsockel. Herr Meyer prökelt mit dem Schlüssel herum und ruft den Hausmeister an. Das Schloss des Kulminationspunktes klemmt.

68 Wassertürme von einst 125 zwischen 1840 und 1970 erbauten stehen noch in Berlin, der „Hauptstadt der Wassertürme“, weiß Jens U. Schmidt, Autor des 2010 erschienenen Buches „Wassertürme in Berlin“. Und die wiederum sind nur ein Teil aller Berliner Türme, von denen etwa die Internetseite berlinertuerme.de allein 600 – allerdings oft nur als Schmuckelement zu Wohnhäusern gehörende – dokumentiert. Da sind die frei stehenden Wassertürme eindeutiger als Turm definiert.

Knapp 30 von ihnen waren Eisenbahntürme und dienten dazu, die Tender von Dampflokomotiven zu füllen. Der Wasserturm Ostkreuz entspricht mit einem 400 Kubikmeter fassenden druckfesten Stahlbehälter im Turmkopf dem üblichen Maß. Die genormte Höhe von 40 Metern bis zur Unterkante des Tanks erzeugte genug Wasserdruck, um die Wasserkräne auf den Bahnhöfen Ostkreuz, Ostbahnhof, Lichtenberg und Rummelsburg zu versorgen. Bis Mitte der achtziger Jahre war der Turm in Betrieb. Das Wasser kam per Pumpe aus dem Rummelsburger See.

Ein Bau, der Erde und Himmel verbindet

Na bitte, Herr Meyer dreht sich erleichtert um. Die Tür zum Turminneren öffnet sich. Es ist kühl und staubig, nach oben recken sich Rohre und dick vernietete rostige Kessel. Ganz schön eng, die aufwärts führende Metallwendeltreppe. Langsam schwindet das durch die Turmtür hereinfallende Licht. Staubige Hände tasten nach der Taschenlampe. Beim Rasten auf der ersten Plattform über den unteren Kesseln gerät eine tote Taube in den Lichtkegel. Der Vogel ist dicht befiedert, aber merkwürdig flach.

Der Turm als tödliches Gefängnis, das ist doch gleich einer der aus der Kulturgeschichte bekannten Funktionen und Metaphern dieser unübersehbaren Bauwerke. Türme sind Repräsentation, sind Wehr, sind Ausguck, sind Rückzug, sind Rapunzel-, Elfenbein- oder Hölderlin-Turm. Ein Bau, der Erde und Himmel verbindet. Der neue Perspektiven schafft. Der das Weltgetöse überragt und abstreift. Der sogar als schnöder funktionaler Wasserturm ein elitärer Solitär sein will.

Draußen rattern die Bahnen übers benachbarte Nord-Süd-Gleisbett, brausen die Autos über Markgrafendamm und Hauptstraße. Im dunklen Tank, den es immer weiter nach oben geht, ist es still. Die Taschenlampen irren übers Backsteinmauerwerk. Staub graut Hände und Hosen ein. Knapp zehn Meter misst der Turm im Durchmesser. Um die Treppenspindel hallt die Leere, gähnt der Horror vacui. Erleichterung, die nächste Plattform naht. Durch ein halb geöffnetes Fenster dringt Licht, ein Taube flattert aufgescheucht herum. Über dem Kopf wölbt sich der Boden des großen Wassertanks, eine abenteuerlich geneigte Leiter führt eine enge Röhre hinauf. Wer da abrutscht, segelt das ganze Turminnere hinunter. Es gibt weiterhin weiße Flecken in der Berliner Turmtopografie. Eine Sicherungsseilschaft ist nicht in Sicht. Die Haube des Wasserturms bleibt Terra incognita.

Draußen blaut der Himmel, ziehen Wolken, zerfließt die Stadtsilhouette, wächst das ewig unfertige Berlin. Herr Meyer hat die Fenster geöffnet, pro Himmelsrichtung eins. Schon fliegt das von der Helligkeit verwirrte Täublein frohlockend davon. Herr Meyer erklärt Brache und Baustelle – die historische Betriebsleitzentrale, das eingerüstete Beamtenwohnhaus. Unten fahren Züge wie auf der Modelleisenbahn, laufen Menschen wie Ameisen auf den Bahnsteigen herum. Das Konzept eines teils öffentlichen, teils bewohnten Turms, das eine Leipziger Diplomandin an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur für die Deutsche Bahn entworfen hat, leuchtet ein. Spitze und Fuß des Wasserturms müssen öffentlich, womöglich gastronomisch genutzt sein. Ein Blick wie dieser darf nicht käuflich sein. Ob das die Interessenten auch so sehen, kann und mag Herr Meyer nicht sagen.

Gefangen im Turm: Die Sicherheitsleute haben die Tür versperrt

Beim Abstieg klingelt sein Telefon. Die Leitstelle Bahnhof Ostkreuz ist dran. Was denn da die Leute im Wasserturm zu suchen hätten? Ein paar Wachleuten sei bei der Streckenkontrolle die offene Tür aufgefallen. Herr Meyer ist bass erstaunt: die Bahnsicherheit funktioniert. „Jetzt wird’s spannend“, sagt er, als der Sockel erreicht ist. Die Sicherheitsleute haben nicht nur Alarm geschlagen, sie haben auch gleich die Tür versperrt. Er rüttelt und rüttelt, nichts tut sich. Die Wasserturm-Expedition gleicht die Vorräte ab: ein halber Liter Wasser, 15 Kräuterbonbons.

Durch eine Türritze lockt die Sonne. Statt an die Tür zu wummern und Hilfe zu schreien, tätigt Herr Meyer ein Telefonat. Eine längere Weile später tut sich das Tor zum Verlies rumpelnd auf. Zwei Bahner mit brummigen Mienen stehen dahinter und mahnen: „Hättense sich ja auch anmelden können! Hättense sich ja mal melden können, als wir hochgerufen haben!“ Die Expedition nickt mit betretenem Blick und mustert die dreckigen Hände. Die Wächter des Wächters haben ja recht. Zu hören war da oben nichts. Durch die Stille im Tank dringen keine Rufe.

Zur Startseite