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Blick in die Gerichtshöfe im Wedding.

© Thilo Rückeis

Berliner Höfe: Die Gerichtshöfe: Wo es quietscht und knarrt

In der letzten Folge der Serie geht es um die Weddinger Gerichtshöfe. Hier wird um die Form gerungen – von Skulpturen, Keksen und Karosserien.

1982 bot man dem jungen Künstler Jürgen Reichert an, sich am Bau einer 10 000 Mark teuren Mauer zu beteiligen. Diese Mauer würde sein Atelier vom Nachbarn trennen. Er könne sich selbst Räume abteilen und dann den Wert des Einbaus mit einer sehr günstigen Miete wieder abwohnen.

Es waren die 80er Jahre in West-Berlin, der Wedding am Rande, Immobilien dort grenzwertig. Die riesigen, offenen Fabriketagen der Gerichtshöfe gähnten ihn an. Bedrohlich fanden das damals viele Künstler, aber Reichert schlug ein.

Die Wohnungsbaugesellschaft Gesobau schickte sich an, das Fabrikgebäude von 1912 mit seinen sechs Höfen in eines der größten Künstlerquartiere des Landes umzuwandeln. 70 Ateliers beherbergt es heute, außerdem Gewerbe. Hunderte aufgekratzte Berliner schnüren einmal im Jahr durch die Gerichtshöfe, wenn zur Langen Nacht die Ateliers geöffnet haben. Bratwurst, Riesling, Wangenkuss – doch niemand sieht das Tagewerk, wenn der Alltag herrscht und die Gewerbe dröhnen und der Himmel bläut und die Kunst entsteht.

Aufgang zwei, zweiter Stock. Hinter der mit einem Stangenschloss gesicherten Tür verbirgt sich das Atelier von Jürgen Reichert, der sein halbes Leben hier verbracht hat. Er hat das Atelier selbst eingebaut und den Wert wieder abgewohnt. Er hat hier seine Frau gefunden, seit 33 Jahren farbenfrohe Bilder gemalt, und er hat zu verhindern gesucht, dass „malende Hausfrauen“ als Künstler firmieren und die günstigen Ateliers beziehen. Hat er nicht diesen Ort geformt – und der Ort auch ihn?

Erfahrungsgesättigt, lockenbekränzt sitzt er in seinem Atelier Ulrike Hansen gegenüber, die hier auch schon seit 18 Jahren malt. Ab sieben Uhr früh, sagen sie beide, sirren die Sägen der Tischlerei ein Stockwerk unter ihnen. Sonntags sei deshalb der friedlichste Tag zum Arbeiten im Atelier. Sie sagen, Aktien der Automobilindustrie solle man kaufen, wenn im Zulieferbetrieb zwei Stockwerke tiefer auch am Wochenende gearbeitet wird. Sie sagen, ihr Werk sei nicht mehr zu trennen vom Keksgeruch der türkischen Bäckerei Tatlicilar sowie den Lebensäußerungen der Weddinger Bevölkerung, die die Vorderhäuser bewohnt. „Du fette Sau“, hören sie einmal einen Mann brüllen. „Ich bin fett und kann dünner werden. Aber du bist doof“, kam die Antwort. „Sehr Wedding“, resümiert Reichert die Logik. Ein normaler Ort, der erfreulicherweise keine Ansprüche an einen stelle.

Als es losging mit den Künstlern, da waren in Berlin sogar noch die Mietverträge kreativ. „Kunstankauf pro qm“ hielten einige Verträge bis 2013 fest. Da sammelte sich für jeden Quadratmeter, den ein Künstler Miete zahlte, über ein Jahr ein bestimmter Betrag als Kunstguthaben an – für diesen Betrag erwarb die Gesobau dann Werke. Vom damaligen Vorstandsvorsitzenden der Wohnungsbaugesellschaft schwärmt man noch heute. Gemeinsame Spaghetti-Essen fanden statt, auch Sommerfeste mit Mitarbeitern, die SPD schickte Kunstkenner.

2004 gründeten die Künstler den Verein „Kunst in den Gerichtshöfen“, der die Lange Nacht organisiert. Einen Verein, den Ulrike Hansen heute als „pragmatischen Schrumpfverein“ charakterisiert, mit dem Ziel, eben diese Veranstaltung auf die Beine zu stellen.

Hier ist die Beschleunigung des neuen Berlin ausgesetzt

Drum herum wurde Berlin Hauptstadt, hip und homogener. Tausende Bonner, ungezählte Schwaben, polyglotte Touristen, bald 4000 Geheimdienstler aus Pullach fluten die Stadt. Hier in den Höfen ist die Beschleunigung ausgesetzt. Hier wird angemischt, verdünnt, abgezogen, lasiert, fotografiert, gesägt und das Trocknen abgewartet. Das Licht in den oberen Etagen ist unübertroffen. Die Keramikerin mit ihrem heißen Ofen heißt tatsächlich Schmelzle.

Die Verbindungen untereinander wurden enger. Hansen und Reichert wurden ein Paar, die Goldschmiedin von Aufgang acht fertigte ihre Eheringe. Mal gingen sie zu einem Musikabend in den Räumen des Geigenbauers Kägi, dann erfanden sie die jährliche Nikolaus-Veranstaltung „Moderne Kunst zum Mitnehmen“.

Natürlich machen nicht immer alle mit, Künstler gehen ja erst einmal in sich, um dann etwas ganz Persönliches herauszuholen. Es ist nicht selbstverständlich, dass alle miteinander Kontakt pflegen. Es brauchte glatt eine Sonnenfinsternis, bis sie endlich einmal mit den Mitarbeitern von Tatlicilar, der türkischen Bäckerei, auf dem Hof ins Gespräch kamen, sagt Ulrike Hansen.

Beim Schweizer Geigenbauer öffnet sich die Tür

„Sollen wir einfach mal klingeln im Haus?“ Und dann führt sie unters Dach, wo der Maler Wolfgang Rohloff buntes Textil in Stücke reißt, um es dann auf seiner Leinwand anzuordnen. Im Stockwerk darunter formen die Mitarbeiter der Firma „prodentum“ an langen, hellen Tischen Zähne, Kronen und Gebisse, „damit ein Lächeln nicht die Welt kostet.“

Ab 1860 stand hier eine Chemische Fabrik, die neben den Glühstrümpfen für Berlins Gaslaternen auch Chinin herstellte. Das findet man heute nur noch in homöopathischen Dosen im Gin Tonic, wenn es mal wieder etwas zu feiern gibt.

Hansen und Reichert sind schon Jahrzehnte Zeugen. 2013 musste die Berolina Siebdruckerei aufgeben. Drei Künstler sind gestorben. Ein Tangoloft zog ein und wieder aus. Aber die Karosseriewerkstatt, die ist noch in vollem Schwung. Und beim Schweizer Geigenbauer Kägi, da öffnet sich die Tür. Auch der gute Klang braucht ja eine Karosse.

Am Arbeitspult sitzt der Meister, der nun den Pinsel in den selbst gemischten Lack taucht und den Halsbruch einer Geige aus dem Besitz der Staatsoper retuschiert. Kägi hat einen Tresor mitgebracht für seine Schätze, viel Zeit für seine Arbeit und eine dezidierte Meinung zu Fragen seines Fachs. Ein Flügel steht edel herum. An Seilen hängen die Geigen. Eine Reparatur dauere zwischen zwei Stunden und zwei Jahren, länger manchmal als der Bau eines nagelneuen Instruments. Niemals, unter keinen Umständen, dürften neue Geigen makellos aussehen, die würde niemand kaufen, sagt Kägi und zeigt ein Exemplar mit vielen Schattierungen im Lack. "Die hier ist stone-washed."

Die Angst geht um, hier könnten teure Lofts entstehen

Die Suche nach der richtigen, das heißt nach der guten und der zweckmäßigen, der windschnittigen und der appetitlichen Form, eint hier alle im Hof, abstrakt und konkret. Da trocknen die Farben auf den Leinwänden der Ateliers, es trocknet der Retusche-Lack auf den kostbaren alten Geigen, der Sprühlack in der Karosseriewerkstatt. Und auf den Keksen trocknet der Guss. Nur „malerisch“ kann man die Höfe kaum nennen. Der Eingang an der Gerichtsstraße klemmt zwischen der "Happy Pizza", die halal serviert und dem "VIP-Friseur". Hierher kommen die arabischen Jungs zur Schur. Die Autofahrer, die die sechs Höfe als ampellose Abkürzung zwischen der Wiesen- und der Gerichtsstraße nehmen, drücken in den Durchfahrten aufs Gas.

Das Umschlossene eines Hofes suggeriert Schutz, doch das neue Jahrtausend ist schon 15 Jahre alt, und wo man in Berlin von Gewerbehöfen hört, ist die Vorstellung von Lofts nicht weit. Die Angst, dass ihre Mietverträge nicht verlängert werden, um irgendwann teuren Wohnungen Platz zu machen, durchläuft die Mieter in Wellen.

Am Ende eines im Nachhinein endlos erscheinenden Nachmittags werden um fünf die fertigen Gebisse abgeholt, Transporter karren das süße Gebäck von Tatlicilar palettenweise zu Großhändlern und zum Flughafen, von wo es europaweit verschickt wird. Die Fräsen und Sägen im Hof verstummen und die Atmosphäre im Atelier von Hansen und Reichert erreicht das Ideal der Stille. "Hören Sie das?", fragt Reichert. "Das ist die Nachbarin von gegenüber. Die redet die ganze Zeit."

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