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Wahrzeichen der Stadt. Die „Grote Kerk“ überragt alles – und sollte ursprünglich noch höher werden, doch der Baugrund auf der Insel gab das nicht her. Im Neuen Hafen legen heute Freizeitboote an.

©  Rolf Brockschmidt

Niederlande: Ein vergnüglicher Ort

Dordrecht gilt als Wiege der Niederlande. Touristisch steht die Stadt im Schatten von Amsterdam & Co – völlig zu Unrecht.

Wie kann das sein? Diese Stadt fristet ein regelrechtes Schattendasein. Zumindest auf der touristischen Landkarte. Dabei ist sie nicht nur gut erreichbar, sondern auch außerordentlich hübsch anzuschauen und weist zumal eine interessante Geschichte auf. Dordrecht ist die älteste Stadt der ehemaligen Grafschaft Holland. Und seit dem Mittelalter ein bedeutendes Zentrum des Handels. Sie gilt als Wiege der staatlichen Unabhängigkeit der Niederlande und bedeutende Stadt für Glaubensfragen im 17. Jahrhundert.

Mit Folgen bis heute. Sage und schreibe 900 Häuser stehen unter nationalem, 700 unter städtischem Denkmalschutz. Dennoch hat kaum ein Holland-Tourist diese Stadt auf dem Plan. Zu übermächtig offenbar die Attraktivität von Städten wie Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht. Doch die Stadtoberen hatten eine kluge Idee: Als die Niederlande in diesem Jahr 200. Geburtstag als Königreich feierten, eröffneten sie am Sitz der Grafen von Holland mit dem „Het Hof van Nederland“ ein hypermodernes Geschichtsmuseum. Mitten in der Altstadt von Dordrecht.

Die Stadt mit gut 100.000 Einwohnern liegt nur 25 Kilometer südöstlich von Rotterdam und ist von dort aus mit der Bahn in einer Viertelstunde bequem zu erreichen.

Vorfreude bereitet schon beim Überqueren der Oude-Maas-Brücke die malerische Silhoutte von Dordrecht. Die Grote Kerk überragt die dicht an dicht gedrängten Häuser um mindestens das Doppelte. Der hohe, kantige Turm mit seinem 67-Glocken-Carillon stammt in der heutigen Form aus dem späten 15. Jahrhundert, die Kirche gilt als Wahrzeichen der Stadt. Doch noch ahnt der Besucher nicht, was ihn wirklich erwartet.

Die Folgen der verheerenden Elisabethenflut von 1421 erscheinen beklemmend echt

Das Museum „Het Hof van Nederland“ ist von außen eher unscheinbar. Die Gebäude des ehemaligen Augustinerklosters sind in die Altstadt regelrecht eingebettet. Nebenan befindet sich ein Gymnasium, in dem Vincent Mentzel, ein bekannter Fotograf der Niederlande, zur Schule gegangen ist. Mit seinen Fotos der Königlichen Familie wurde das Museum im Sommer vom Königspaar eröffnet.

Heute kann der Besucher hier interaktiv in die Stadtgeschichte eintauchen. Neue Medien lassen Pläne und Stiche lebendig werden, und die Folgen der verheerenden Elisabethenflut von 1421 erscheinen dank vielfältiger Projektionen beklemmend echt. Im Zentrum der Dauerausstellung steht allerdings die Bedeutung Dordrechts für die niederländische Geschichte.

Bei der Flut im Jahr 1953 stand ein Sechstel der Niederlande unter Wasser. Besonders schlimm traf es Dordrecht.
Bei der Flut im Jahr 1953 stand ein Sechstel der Niederlande unter Wasser. Besonders schlimm traf es Dordrecht.

© imago

Hier traf sich Wilhelm von Oranien 1572 mit Vertretern von zwölf holländischen Städten, um den Unabhängigkeitskampf gegen Spanien in die Wege zu leiten, hier wurde 1575 die Union von Dordrecht zwischen den Provinzen Holland und Zeeland geschlossen als Keimzelle der späteren Republik der Sieben Vereinigten Provinzen. Diese Versammlung wird in einem eindrucksvollen Film nachgespielt.

In Dordrecht wurden auch 1628 auf einer Synode die Glaubensstreitigkeiten im Lager der Protestanten beigelegt, dabei einigten sich die Mitglieder auf eine allgemeingültige niederländische Bibelübersetzung, die in der „Statenbijbel“ bis heute gültig ist.

Typische Treppengiebeln und Rundbogenfenster

Da die Niederlande kein nationales Geschichtsmuseum haben, kommt dem Museum Het Hof van Nederland besondere Bedeutung zu, weil eindrucksvoll die Grundlagen der Unabhängigkeit von Spanien sowie der Einsatz für Frieden und Toleranz mit modernsten Mitteln dokumentiert werden. Das neue Geschichtsmuseum ist mehr als ein reines stadthistorisches Museum, das auf jeden Fall den Besuch lohnt, nicht nur für Touristen, sondern auch für Museumsleute.

In der Altstadt, auf drei durch Brücken miteinander verbundenen Inseln in der Oude Maas gelegen, kommt der Besucher auch abseits des Museums aus dem Staunen nicht heraus. Schön hergerichtete zweigeschossige Backsteinhäuser mit den für Dordrecht typischen Treppengiebeln und Rundbogenfenstern aus dem 15. bis 17. Jahrhundert säumen zum Teil den Statenplein.

Die langen Straßen, die parallel zu den beiden gegrabenen Hauptwasserwegen verlaufen, die die Insel durchschneiden, sind auch größtenteils erhalten geblieben. Sie verbinden Binnenhäfen wie den alten Wein- und den Wollweberhafen. Grachten, wie in anderen niederländischen Städten, sucht man in Dordrecht vergeblich. Und es fällt noch etwas auf: Anders als etwa in Amsterdam stehen die Häuser meistens mit der Rückseite zum Wasser. Ein Entlangflanieren am Wasser ist also nicht überall möglich.

Das Stapelrecht ließ den Handel florieren

Die Eisenbrücke am „Neuen Hafen“.
Die Eisenbrücke am „Neuen Hafen“.

© Rolf Brockschmidt

Frei nach der alten holländischen Maxime, wenn kein Platz da ist, muss man ihn sich schaffen, ist der zweite große Platz, der Scheffersplein, entstanden: als breite Brücke über einem Wasserlauf, mit vielen Cafés und Kneipen. Ein vergnüglicher Ort nicht nur im Sommer – im Winter wird hier eine Eisbahn angelegt. Über den Platz gelangt man zum Groenmarkt, eine Straße mit prächtigen Giebelhäusern.

Dordrecht hatte als Hansestadt seit dem Mittelalter Stapelrecht, eine Art Marktrecht. Alle Waren, die über die Maas Richtung Küste oder Deutschland per Schiff geschickt wurden – Getreide, Holz, Wein, Tuch und Wolle – mussten hier ausgeladen und auf dem Markt angeboten werden, außerdem wurde Zoll fällig. Davon profitierte die Stadt, der Handel blühte und die Bewohner konnten sich immer prächtigere Häuser leisten.

Erst im 19. Jahrhundert mit der beginnenden Industrialisierung und dem Aufstieg von Rotterdam und Amsterdam verliert Dordrecht als Handelsplatz an Bedeutung. Der Stadt hat dieser Bedeutungsverlust dennoch nicht geschadet. Sie hat weitgehend ihr Erscheinungsbild im Kern bewahrt, und das macht heute ihren Reiz aus.

Die Große Kirche steht wie ein Bollwerk des Glaubens

Vorbei am klassizistischen Rathaus, das seinen mittelalterlichen Kern so geschickt verbirgt, gelangt man über die Grotekerksbuurt zur „Onze-Lieve-Vrouwekerk“ (Liebfrauenkirche), auch Grote Kerk genannt. Selbst wenn jemand Gotteshäuser in der Regel meidet – hier lohnt der Besuch. Auf der mittleren Insel gelegen, steht sie wie ein Bollwerk des Glaubens. Ihr riesiges spätgotisches Kirchenschiff von beachtlicher Länge und Größe nimmt einem den Atem. Allein hieran ist zu ermessen, dass Dordrecht nicht irgendeine Stadt gewesen ist.

„Groothoofdpoort“ – ein Stadttor wie ein Palais aus besseren Zeiten
„Groothoofdpoort“ – ein Stadttor wie ein Palais aus besseren Zeiten

©  Rolf Brockschmidt

In der Nähe der Kirche, am Beginn des Neuen Hafens (Nieuwe Haven), der heute den vielen Freizeitbooten Schutz bietet, lässt es sich gut und preiswert im Eetcafé De Passant eine Pause einlegen. So ein Stadtspaziergang entlang der Wasserwege zieht sich nämlich, da kann eine kleine Rast nicht schaden. Entschädigung beim viele Kilometer Pflastertreten bieten immer wieder neue, interessante Perspektiven auf die Stadt, die vom Wasser lebte und lebt. Hier an Ort und Stelle ist auch noch besser als im Museum zu verstehen, welche verheerenden Folgen die Elisabethenflut von 1421 und die große Sturmflut von 1953 für Dordrecht gehabt haben müssen.

Am Neuen Hafen liegen das „Museum 1940–1945“ sowie das Museum Huis van Gijn, das die bunte Privatsammlung eines Mäzens aus dem 19. Jahrhundert birgt. Doch für heute lassen wir die beiden Museen am Weg liegen und streben zum Wolhaven. Dorthin gelangt der Spaziergänger über eine spektakuläre Eisenbrücke am Straatmandock. Der baumbestandene Kai ist gesäumt von Patrizierhäusern, und das maritime Flair wird verstärkt durch die historischen Flussschiffe des 19. und 20. Jahrhunderts, die hier vertäut liegen.

Der Flussknoten erklärt die strategische Rolle der Stadt

Die diensttuenden Frauen des Dordrechter Patrizierhauses (Wolhaven 9) freuen sich aufrichtig über jeden Besucher. Sie sparen nicht mit Erklärungen und Erläuterungen zu diesem Museum, in dem man in die Rolle eines Patriziers aus der Zeit um 1770 bis 1815 schlüpfen kann. Hinter der relativ schlichten Backsteinfassade entwickelt sich gutbürgerlicher Prunk, vergoldete Spiegel und Gemälde von Cornelis Kuipers (1739–1802) und seiner Zeitgenossen aus Dordrecht, längs gestreifte Tapeten und im Maassaal, einem halbrunden großzügigen Raum, findet sich ein angemessener Rahmen für einen gepflegten High Tea.

Vor den Fenstern treffen Oude Maas, Noord und Merwede aufeinander, dieser Flussknoten erklärt die strategische Rolle der Stadt.

Über eine typisch niederländische Zugbrücke, allerdings aus Eisen und nicht weiß gestrichen aus Holz, gelangt man zur Groothoofdpoort, einem gewaltigen Stadttor mit prächtiger Fassade und Kuppel, dem zweiten Wahrzeichen der Stadt. Ein Tor, das eher wie ein kleines Palais wirkt, in dem unter anderem ein Durchgang eingebaut ist. Ähnlich prächtige Stadttore fanden sich früher auch in Rotterdam. Gleich daneben liegt das Hotel „Bellevue Groothoofd“, hinter dessen nobler Fassade aus dem 19. Jahrhundert sich ein Designerhotel verbirgt.

„Haus des Schamlosen“. Beim Besuch von Kronrinzessin Wilhelmina 1897 legten besorgte Bürger dem kleinen Mann eine orangefarbene Schärpe um. Foto: Rolf Brockschmidt
„Haus des Schamlosen“. Beim Besuch von Kronrinzessin Wilhelmina 1897 legten besorgte Bürger dem kleinen Mann eine orangefarbene Schärpe um. Foto: Rolf Brockschmidt

©  Rolf Brockschmidt

Zurück ins Zentrum gelangt der Flaneur durch die Wijnstraat. Der Weinhandel war es schließlich, dem die Stadt viel zu verdanken hatte. Hier liegt auch das „Haus des Schamlosen“ – mit einem nackten Knaben im Giebel, der zwei Wappen hält. „Wissen Sie, was es damit auf sich hat?“, fragt ein Passant die fotografierenden Touristen. „Als Kronprinzessin Wilhelmina 1897 mit ihrer Mutter, Königin Emma, Dordrecht besuchte, haben Bürger, die sich um das Seelenheil des hohen Besuchs sorgten, eine Oranje-Scherpe um die entscheidende Stelle gewickelt, damit die Prinzessin nicht sittlich erschüttert wurde“, erzählt er, lacht, grüßt und geht seiner Wege.

Die Zeiten haben sich geändert, aber Dordrecht hat sich seinen Charme vergangener Größe bewahrt.

Tipps für Dordrecht

ANREISE

Mit Transavia mehrere Male pro Woche nonstop von Berlin-Tegel nach Rotterdam. Eine Strecke ab 29 Euro (transavia.com). Viele Touristen nutzen einen Aufenthalt in Rotterdam zu einem Abstecher nach Dordrecht (15 Bahn-Minuten, alternativ Busse oder Wasserbusse (Waterbus)).

UNTERKUNFT

Rotterdam bietet eine Fülle von Hotels aller Klassen, die in jedem Fall wesentlich preisgünstiger sind als in Amsterdam. Für rund 70 Euro pro Nacht gibt es ein ordentliches Zimmer.

Wer in Dordrecht übernachten möchte: Neben den eher preiswerten Häusern der Van-der-Falk-Gruppe sei die „Villa Augustus“ erwähnt, ein originelles, jedoch nicht ganz billiges Haus (Doppelzimmer ab 125 Euro); Telefon: 00 31 / 78 / 639 31 11.

AUSKUNFT

Das Niederländische Büro für Tourismus hat die Telefonauskunft abgeschafft, Informationen gibt es aber unter holland.com.

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