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Vorher: Max Missmann fotografiert Tauentzien und Gedächniskirche 1905

© Max Missmann/Stadtmuseum Berlin

"Berliner Ansichten" im Märkischen Museum: Die Einst-und-Jetzt-Falle

Zwei Stadtchronisten, eine Ansicht: Jochen Wermann hat historische Aufnahmen von Max Missmann nachfotografiert. Ein Treffen im Märkischen Museum.

Dieser Falle zu entgehen, ist schwer, geradezu übermenschlich schwer, so gut wie jeder tappt hinein. Sie heißt Einst und Jetzt und sie schnappt im Kopf jedes einzelnen Betrachters zu. Fast jedes. Dem Stadtfotografen Jochen Wermann zumindest ist das nicht passiert. Höchstens bei zweien von 30 Fotos, die sich jetzt in der Ausstellung „Berliner Ansichten“ im Märkischen Museum begutachten lassen. Allerdings nicht aus Vorsatz oder Fahrlässigkeit, sondern aus der Not eines Fotografen heraus, der ein Bild machen muss. Und seine aktuellen Ansichten des Bayerischen Platzes oder die Bahnüberführung in der Friedrichstraße zeigen eine ernüchternde, fast diskreditierende Gegenwart, wenn man sie mit dem Sepia-Schmelz des Fotografen Max Missmann vergleicht, der gut hundert Jahre zuvor Fotos an denselben Stellen aufgenommen hat.

Die Straßenbahntrasse in der Mitte der Friedrichstraße lässt sie heute als graue Asphaltöde erscheinen. Damals drängten sich Pferdefuhrwerke und Menschen an Gründerzeitfassaden vorbei. Und der Bayerische Platz in Schöneberg hat sich seither von einem akkurat gestalteten, mit repräsentablen Großbürgerbauten umstandenen Stadtraum samt Blumenrabatten und weiß gekleideten Kinderchen in einen grünen – das ja –, aber sonst strukturlosen Unort verwandelt.

Nachher: Jochen Wermann fotografiert Tauentzien und Gedächtniskirche 2014.
Nachher: Jochen Wermann fotografiert Tauentzien und Gedächtniskirche 2014.

© Jochen Wermann/Verlag M/Stadtmuseum Berlin

Nichts von der wilhelminischen Herrlichkeit, die Missmann in Schwarz-Weiß eingefangen hat, hat Zeitläufte und Stadtentwicklung überdauert. Weil Wermann aber vom Märkischen Museum den Auftrag erhielt, für ein Berlin-Memory-Spiel Missmann-Motive nachzustellen, gab es kein Vertun. „Also habe ich ein trauriges Foto von einem hilflosen 50er-Jahre-Platz gemacht“, bedauert Jochen Wermann. „Sogar ein polemisches – wie bei der Friedrichstraße“, sagt der Schriftsteller und Essayist Michael Rutschky, zeigt das Foto auf der anderen Seite des Ausstellungsraumes und attestiert Wermann bei den anderen Bilderpaaren im Raum eine große Diskretion, ein Vermeiden der Einst-und-Jetzt-Falle.

Die Kombination der historischen und heutigen Stadtlandschaft ist der Clou der Ausstellung und des dazugehörigen Buches. In fünf Räumen gibt sie darüber hinaus Einblicke in das mehr als 30 Jahre umfassende Werk des 1950 in Altenburg/Thüringen geborenen und seit 1954 in Ost-Berlin ansässigen Jochen Wermann, darunter der Abriss des alten Friedrichstadtpalastes oder seine S-Bahn-Serie „Ring Hundekopf“. Und in die Fotoarbeiten des 1874 geborenen und 1945 gestorbenen Kreuzbergers Max Missmann, darunter prächtige, weitwinklige Panoramen zentraler Plätze und Genreszenen Berliner Typen, wie etwa der Aufnahme, auf der ein – damals einfach nur armer, heute aber pittoresk wirkender – Wimpelverkäufer einem kleinem Mädchen eine Fahne verkauft.

Selbstporträt. Der Stadtfotograf Max Missmann um 1935.
Selbstporträt. Der Stadtfotograf Max Missmann um 1935.

© Max Missmann/Berlinische Galerie

Rutschky wiederum ist der Enkel von Missmann und hat durch zufällige Verbindungen in der Berliner Kulturszene einen Anteil daran, dass das vergessene Werk eines der wichtigsten Berliner Stadtfotografen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem Mauerfall wiederentdeckt wurde. Dass das Märkische Museum noch zu Lebzeiten Missmanns 1100 Abzüge seiner Fotos gekauft hat, erfuhr Rutschky erst nach 1989. Schließlich ist das umfangreiche Glasnegativarchiv des Fotografen verloren. Am Kriegsende hatte die Familie so wie die zerbombte Stadt andere Sorgen. Die Platten wurden verkauft, abgewaschen und zu Fensterglas verarbeitet.

Stadtchronist. Jochen Wermann fotografiert Berlin seit mehr als 30 Jahren.
Stadtchronist. Jochen Wermann fotografiert Berlin seit mehr als 30 Jahren.

© Michael Setzpfandt/Stadtmuseum Berlin

Seinen Großvater bewusst gekannt hat Michael Rutschky nicht. „Aber er mich, zwei Jahre lang, ich bin Jahrgang 43.“ Dessen Fotos pflanzten dem Berliner Kriegskind, das in Hessen aufwuchs, trotzdem eine unstillbare Sehnsucht ins Herz. Die opulente, heile, heimelige Ausstrahlung, kurz – der Glanz einer Stadt im Aufbruch verfing auch bei ihm. „Ich schwelgte in den Bildern und mir war absolut klar: Das ist der Ort, wo man leben muss!“ 1984 ist er dann endgültig wieder nach Berlin zurückgekehrt und hat auch selbst Fotobände veröffentlicht. „Ich bin ein Knipser“, sagt Rutschky und holt eine kleine Kamera aus der Jackentasche. Die habe er in der Stadt immer dabei. „Das ist eine elaborierte, mystische Form von Stadtspaziergang“, sagt Rutschky. „Sie dürfen aber keine Motive suchen, die suchen Sie.“

Jochen Wermann nickt. Genau das ist der Grund, warum er so viel Fahrrad fährt. Wie sich seine Fotografie von der Missmanns unterscheidet? „Er zeigt die Stadt als Schmuckkästchen und häufig von oben, sehr monumental. Ich nicht, ich bleibe lieber auf Augenhöhe.“ Wobei er, um Missmanns Perspektive nachzuempfinden, diesmal den einen oder anderen Höhenmeter gewinnen musste. Wie für seine Aufnahme des ehemaligen Schlachthofgeländes an der Landsberger Allee. Wo bei Missmann Schlote rauchen und strenge Backsteinarchitektur prunkt, wächst bei Wermann die dort entstehende neue Wohnbebauung aus der Brache. Um die Draufsicht zu bekommen, hat er vergebens an zahllosen Wohnungstüren eines gegenüberliegenden Hauses geklingelt, erzählt er. Reingelassen hat ihn keiner. Erst Tage später, als sich ein paar Leute erbarmten, die gerade beim Umziehen waren. Da durfte er kurz auf den Balkon.

Viele der Bilderpaare bieten krasse Einblicke in die Verwandlung der Stadt. Der Blick über den Tauentzien zur Gedächtniskirche etwa: heute ein sachliche Straßenflucht mit dem Gebäudeknäuel aus Kirchenruine, Kirchneubau und Waldorf-Astoria-Hotel am Ende. Vor hundert Jahren ein historistisches Zinnen- und Türmchen-Gewirr mit einem deutlichen Stich Neuschwanstein. Oder die Hochbahn in der Bülow- Ecke Dennewitzstraße. Damals donnerte die Bahn spektakulär durch eine herumgemauerte Gründerzeitfassade, heute dominieren die Bahntrasse, der Himmel und ein verlorener Neubau den Blick. Prompt wächst sie wieder: die Sehnsucht nach dem besseren, schöneren, vergangenen Berlin. Das „Heimweh nach einer Stadt, die der Betrachter so gar nicht kennt“, wie Michael Rutschky es in einem Aufsatz über die großväterlichen Fotografien nennt.

Er kennt sogar jemanden, der bei deren Anblick einen Wutanfall auf das heutige Stadtbild und seine Neubauten bekommen habe, erzählt er. Da überwältigt das vergoldete Einst im Auge des Betrachters förmlich das als hässlich empfundene Jetzt. Was auch – da sind sich Wermann und Rutschky einig – an der Farbfotografie liegt, die im Gegensatz zum poetischen Schwarz-Weiß als trivial wahrgenommen wird. „Missmann hat absolut keine idealisierenden Fotos gemacht“, sagt sein Enkel. „Es war einfach seine Gegenwart und er war völlig einverstanden mit diesem neuen, wachsenden Berlin.“ Jochen Wermann nickt. „Die Nostalgie, die wir beim Anblick empfinden, ist reine Projektion.“ Genau, setzt Rutschky zum Fotografen gewandt hinzu: „Und in 50 Jahren geht uns das mit Wermanns Stadtansichten so.“

Märkisches Museum, Am Köllnischen Park 5, Mitte, bis 31.8., Di–So 10–18 Uhr

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