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Szene aus "The State-Mafia Pact".

© Maila Iacovelli - Fabio Zayed/Festival

Lowbudget-Komödie beim Filmfest Venedig: Selbstmord mit Michel Houellebecq

Das Filmfest von Venedig nähert sich langsam seinem Finale. Neben braven italienischen Beiträgen und einer philosophischen Farce aus Schweden überrascht eine tragikomische Bergbesteigung mit Michel Houellebecq.

Beweise verschwinden, Geständnisse werden erpresst, Kronzeugen erschossen, Ermittler weggebombt, man kommt kaum hinterher. Die italienische Dokumentaristin Sabina Guzzanti hat sämtliche Gerichtsakten über die Verbindungen der Mafia zum italienischen Staat studiert und versammelt in ihrer Doku-Fiction „The State-Mafia Pact“ Belege für die Deals der Politik mit dem organisierten Verbrechen. Minutiös referiert der Film Indizien für den Mafia-gesteuerten Aufstieg der Forza Italia nach der Ermordung der Richter Falcone und Borsellino in den neunziger Jahren. Silvio Berlusconi, ein Geschöpf der Cosa Nostra.

Je mehr Macht, desto weniger Morde, lautete der Deal. Der beim 71. Filmfest Venedig außer Konkurrenz gezeigte Film mit Archivmaterialien, teils anonym geführten Interviews und inszenierten Verhör- und Geheimabsprachen-Szenen (bei denen jeder Satz belegt ist) erntete bei der Pressevorführung langen Applaus. Regisseurin Guzzanti gehört zu den wenigen Unerschrockenen des Landes. Vielleicht sind ihre Filme deshalb mit Informationen überladen: Anderswo erfährt das Publikum kaum etwas über die strukturellen Zusammenhänge von Politik, Wirtschaft und Mafia. In „Draquila“, ihrem Pamphlet gegen die Korruption beim Krisenmanagement nach dem Erdbeben von L’Aquila, hatte Guzzanti den Rahmen der Farce gewählt; in „The State-Mafia Pact“ sprechen die Fakten für sich.

Im Wettbewerb um den Löwen macht Italien eine schwache Figur

Nicht dass in Italien über die Mafia geschwiegen würde. Sie wird nur hingenommen wie eine Naturgewalt, als etwas Unveränderbares. Wer etwa nach den Skandal-Baustellen hier auf dem schmalen Landstreifen des Lido fragt, nach dem Riesenloch anstelle eines neuen Festivalpalasts, dem verfallenen Hotel des Bains und dem leer stehenden Ospedale al Mare, erntet Achselzucken. Im Wettbewerb um die Löwen macht Italien eine schwache Figur. Francesco Munzis Kalabrien-Drama „Anime nere“ („Schwarze Seelen“) erzählt mal wieder eine kalabrische Vendetta- und Mafiosi-sind-gute-Familienväter-Geschichte. Mario Martones Il giovane favoloso“ („Der fabelhafte Junge“) ist ein braver Kostümfilm über den Dichter Giacomo Leopardi. Und Alba Rohrwacher irritiert in Saverio Costanzos New-York-Film „Hungry Hearts“ als junge Mutter, die ihr Baby aus Angst vor der schädlichen Welt fast verhungern lässt.

Hat Italien nur die Wahl zwischen Defätismus und Fatalismus? „Italy in a Day“ entwirft ein anderes Bild. Für das außer Konkurrenz gezeigte Projekt (frei nach Ridley Scotts Produktion „Life in a Day“, 2011) hatte Regisseur Gabriele Salvatores die Italiener aufgefordert, ihm Videos vom 26. Oktober 2013 zu schicken. 44 197 Filme wurden eingesandt, Salvatores filterte 75 Minuten daraus, ein Patchwork des Überlebens im Alltag, ein Manifest des kollektiven Unbewussten, der Sehnsüchte, Kämpfe und Einsamkeit Italiens. Es sind meist einfache Leute, Schüler, Leute vom Land, Kleinbürger, die Mittelschicht, über 600 „Regisseure“.

Sie machen Liebeserklärungen und Heiratsanträge vor laufender Kamera, filmen die Geburt des Sohns und die demente Mutter, die nicht mehr weiß, wie viele Kinder sie hat. Sie setzen ihre Wut über die Arbeitslosigkeit in Szene, den Schmerz über die gescheiterte Ehe, die Müllberge am Straßenrand, die Schönheit des Augenblicks, den Humor in eigener Sache. Pulsschlag einer Nation: So viel Lebenslust und Zähigkeit findet sich selten im Kino. „Italy in a Day“ ist ein Film über das Glück und seine Zerbrechlichkeit unter unwürdigen Lebensbedingungen. Jeder italienische Politiker sollte ihn sehen – um zu wissen, wofür er Sorge trägt. Unser Land, sagen die Jungen, geht vor die Hunde. Aber es gibt keinen Grund, tatenlos zuzuschauen.

Bei Roy Andersson gibt es Zombies, absurde Gespräche und traurige Clowns

Schweden, so scheint es, ist längst vor die Hunde gegangen. Roy Andersson präsentiert im Wettbewerb eine philosophische Farce, eine Collage aus lakonischen Sketchen, als hätte Kaurismäki bei den Muppets Regie geführt. Depression ist gar kein Ausdruck: Die Menschen agieren in Zeitlupe, Zombies mit bleichen Gesichtern, die absurde Gespräche führen. Zwei traurige Clowns verkaufen Scherzartikel, die keiner haben will. Mit Anderssons Film geht es einem irgendwann ähnlich. Immerhin trägt er den schönsten Titel dieses Jahr in Venedig: „A Pidgeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“.

Wie wär’s mit einem Mann, der auf einen Berg steigt, um über seine Existenz nachzudenken? Auch die „Orrizonti“-Reihe präsentiert einen nietzscheanischen Exkurs, ein Lowbudget-Video der heiteren Art. In „Near Death Experience“ von Benoit Delépine und Gustave Kervern spielt Michel Houellebecq einen Callcenter-Angestellten mit Burn-out-Syndrom, der mit staksigen Beinchen im Radler-Outfit ein Bergplateau in der Provence erklimmt, um sich das Leben zu nehmen. Aber er simuliert nur den Sprung in die Tiefe, führt Selbstgespräche über Sinn und Unsinn des Daseins, baut drei Steinpyramiden – seine Frau und die Kinder –, sagt ihnen, was er schon immer mal sagen wollte. Houellebecqs Todesmonologe stecken voller Liebe zu den Skurrilitäten des Lebens. Der Schriftsteller, der schon auf der Berlinale in der schwarzen Komödie „Die Entführung von Michel Houellebecq“ als entwaffnender Selbstdarsteller verblüffte, wird Achternbusch immer ähnlicher.

Italien schickt am heutigen Donnerstag seinen letzten Wettbewerbsfilm ins Rennen, „Pasolini“ von Abel Ferrara. Noch ein Mord, noch ein Mysterium. Der Regisseur behauptet zu wissen, wer Pasolini 1975 wirklich umgebracht hat.

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