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Der Kindersoldat. Kleist-Szene aus dem Berliner Ephraim-Palais.

© Doris Spiekermann-Klaas

Heinrich von Kleist: Unüberwindliche Nähe

200 Jahre nach seinem Freitod: Berlin und Frankfurt/Oder feiern in Ausstellungen den genialen Brausekopf Heinrich von Kleist.

Ein Mädchen hockt verwaist in einer zur Trümmerwüste gewordenen verlorenen Heimat. Das Bild – aus Japan, von diesem Frühjahr. Dazu ist auf einer Wandtafel ein Textauszug aus Heinrich von Kleists Erzählung „Das Erdbeben von Chili“ zu lesen, erstmals veröffentlicht im September 1807 im Tübinger „Morgenblatt für die gebildeten Stände“.

Im zweiten Stock des Berliner Ephraim-Palais gibt es in der an diesem Wochenende eröffneten Ausstellung „Kleist: Krise und Experiment“ einen Raum zum Thema „Katastrophen in der Literatur“. An den Wänden finden sich auch Ausschnitte aus weiteren Kleist-Novellen, in denen der von der Obrigkeit missachtete Rosshändler Kohlhaas zum Mordbrenner wird, in denen Aufstände, Feuersbrünste, Pest und Vergewaltigung die Handlung eröffnen oder beschließen. Und immer korrespondiert ein Bild von heute mit den tollwütig graziösen Erzählungen: etwa eine vermutlich vergewaltigte Frau aus einem afrikanischen Stammeskrieg mit der im Krieg und Traum geschwängerten „Marquise von O.“

Der „Michael Kohlhaas“ bekommt später noch einen eigenen Raum, mit Filmprojektionen zu Selbstjustiz, RAF-Terrorismus und Kurzszenen aus Volker Schlöndorffs Verfilmung von 1969. Das alles ist gewiss kein besonders ingeniöser Ausstellungseinfall. Aber ein Versuch, die imaginäre Gegenwart poetischer Entwürfe anschaulich zu machen. Die „Katastrophen in der Literatur“ entspringen ja oft genug auch Katastrophen im Leben.

Zumal im Falle Kleist, dessen 2011 gefeiertes Jubiläum ja an einen Doppelselbstmord und zugleich zweifachen Freitod anknüpft. Im November vor 200 Jahren erschoss der gerade 34-jährige Dichter seine Gefährtin Henriette Vogel (auf deren Wunsch) und dann sich selber, in Berlin am Kleinen Wannsee. Schoss ihr ins Herz und sich in den Kopf.

Dieser Kindskopf, ein Bubengesicht, weich, mit träumerischen Augen zum Staunen und fast weiblich vollen Lippen. Ein Kindskopf, der die Welt voll Sehnsucht und Entsetzen sah und in dem Erfahrung und Erfindung so lange explodierten, bis er selbst zerspringen musste. Ein blauäugiges Wunderkind, manchmal auch mit wild aufgerissenem Blick. Dieses Bild taucht in Varianten immer wieder auf, auch wenn von Heinrich von Kleist nur ein einziges als authentisch geltendes, weil in Kleists Auftrag nach dem lebenden Vorbild gemaltes Porträt existiert. Es ist eine farbige Miniatur auf Elfenbein, 7,5 mal 5,5 Zentimeter, 1801 von Peter Friedel gemalt und ein Geschenk für Kleists Verlobte Wilhelmine von Zenge. Ähnlich wie bei Büchner: kaum ein fester Umriss, ein jähes, zu kurzes Leben, aber ein Werk, das strahlt und riesige Schatten wirft.

Vom jungen Büchner gibt es immerhin eine Locke. Aus Kleists Besitz kaum eine Kaffeetasse. Aber noch 250 gerettete Manuskripte und Briefe. Nur kann man die nicht alle ausstellen, und Kleists Handschrift, die von zierlicher Kalligrafie zu kühnen, steilen Zacken wechselt, ist meist nur für Kenner zu lesen.

Trotzdem gibt es in der vom Berliner Stadtmuseum im Ephraim-Palais gezeigten Schau, die den Hauptteil einer Doppelausstellung in Zusammenarbeit mit dem Kleist-Museum in Kleists Geburtsstadt Frankfurt/Oder präsentiert, ein paar richtig auratische Autografen. Das mit Abstand kostbarste, auf fast eine Million Euro geschätzte Objekt ist die 102-seitige Handschrift der „Familie Ghonorez“, Kleists erstem Drama, das 1803 in der Schweiz als anonymer Druck unter dem bis heute maßgeblichen Titel „Familie Schroffenstein“ erscheint (auch davon liegt ein rares Exemplar in der Vitrine).

Viel kurioser aber ist die Sektion „Fantastische Ideen, futuristische Projekte“. Hier beeindrucken elektromagnetische Kolben, die verblüffend genau einem funkensprühenden Geschlechtswerkzeug gleichen, es gibt als Kunstobjekt eine „Magnetresonanzspindel“ – all das soll Kleists naturwissenschaftliche Interessen während seines dreisemestrigen Studiums ab 1799 an der Frankfurter Viadrina illustrieren. Oder eher assoziieren. Was Kleists nicht nur in poetische Projekte ausschweifendem Brausekopf wohl besser entspricht.

Ein Manuskriptblatt zeigt auch Kleists 1805 skizzierten Bau eines U-Boots. Und wer sich noch dem Audioguide anvertraut, hört, was Kleist wenig später dann als Herausgeber und Autor der „Berliner Abendblätter“ notierte: die Erfindung eines „elektrischen Telegraphen“, der vermittels der „Fernschreibekunst“ eine Nachricht rund um die Welt noch in der Sekunde ihrer Formulierung beim Empfänger landen lasse. Für schwerere Sendungen („Beilagen und Pakete“) empfiehlt Kleist dagegen eine mehr artilleristische „Wurf- oder Bombenpost“.

Das Polare als Prinzip nicht nur der physikalischen Spannung galt auch für Kleists Leben und Dichtung. Manifestiert in Anziehung und Abstoßung, im Widerspiel von Genialität und Misserfolg, von Kriegsnähe und Friedenshunger, von höchster Zärtlichkeit und dem Faszinosum tiefster Grausamkeit, von Liebessehnsucht und Abstand: jener „unüberwindlichen Nähe“ (ein Ausdruck von Botho Strauß) auch zwischen den Geschlechtern. Kleist war, ähnlich wie Kafka, mehr ein Erotiker auf dem Papier als im leibhaftigen Leben.

Man geht in dieser vom vorzüglichen Kleist-Biografen Günter Blamberger kulturgeschichtlich interessant konzipierten und von dem Szenografen Stefan Iglhaut mit wechselndem Glück realisierten Ausstellung etwa einer Topografie der Kleistschen Reisen durch Deutschland und Europa nach. Dabei treten wir auf die im eingelegten Holzboden vergrößerte Zeichnung eines Würzburger Torbogens, in dem die Wölbungssteine sich statisch stützen. Sturz und Halt. Kleist hat das Detail 1800 sofort als Symbol seiner eigenen Existenz erkannt.

Weniger schlagend wirken andere Bebilderungsversuche. In einer Vitrine der schwärmerische Brief an den Herzensfreund Ernst von Pfuel – und auf der Leinwand ein läppischer Privatfilm von badenden jungen Männern. Oder graue Aktenattrappen und Zeitungsstapel, die Kleists gescheiterte Reformideen und sein Engagement als Redakteur der (tollen, Poesie und Boulevard verbindenden) „Berliner Abendblätter“ illustrieren sollen.

Selbst für das aufregendste Motiv finden sich nur schwache Symbole. Der „nach sieben unwiderbringlich verlornen Jahren“ (H. v. K.) aus dem Militärdienst geschiedene Jungoffizier blieb als Friedenssehnsüchtiger doch ein Gewalt-Faszinierter und zugleich auf humane Erlösung auch im Kriegsstaat Hoffender, bis zu seinem finalen Drama vom „Prinzen von Homburg“. Aber hierzu bietet die Berliner Ausstellung nur historisch unscharfe Bildassoziationen zum Stichwort „Kindersoldat“ und ein paar gekreuzte Schwerter und Flinten. Am originellsten ist da noch das alte Türschloss des Brandenburger Tors mit den Schlüsseln, die Napoleon bei der Übergabe von Berlin einst ausgehändigt wurden.

Der vorletzte Raum mit den simulierten Todesanzeigen Henriette Vogels, Kleists und vieler weiterer Selbstmörder der Kulturgeschichte heißt „Ökonomie des Opfers“. Sinngemäß: Tausche Leben gegen Nachruhm. Doch für Kleists rühmliches Nachleben finden sich allein ein paar Buchausgaben oder Gedenkmünzen in einer Vitrine. Die internationale Rezeption fehlt ebenso wie überhaupt die wahre Entdeckung Kleists: auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Nichts davon.

„Krise und Experiment“: Das ist alles und jedes bei Kleist – und macht die Leitidee so treffend wie vage. Viel bescheidener bleibt da der Frankfurter Teil der Ausstellung in den kleinen verwinkelten Räumen des barocken Kleist-Museums an der Oder. Hier sind Hinweise auf Herkunft und Anfänge versammelt, etwa die Familienbibel der Kleist-Sippe, auch wenn man nicht sagen kann, ob der junge Heinrich das Buch je berührt hat. Es gibt zu wenig – und Frankfurt wartet auf einen nicht vor 2013 eröffnenden Aus- und Neubau neben dem jetzigen Haus.

Was Frankfurt freilich bietet, versteckt sich wenige Schritte vom Museum in der Großen Oderstraße 26/27. Im Erdgeschoss eines eher ärmlichen Nachkriegsbaus hat die Museumspädagogin Christina Dalchau zusammen mit (nicht nur) Frankfurter Schülern und einigen Studenten ein fabelhaftes „internationales Jugendprojekt“ verwirklicht: die „Kleist- WG“. In gut einem Dutzend Räumen haben Jugendliche auf erstaunlichem Niveau ganz unterschiedliche Ideen zu Werk und Leben Kleists installiert. Es gibt Traum- und Alptraumkabinette mit Brandspuren, geborstenen Möbeln, gesplitterten Spiegeln, es gibt witzige Verbindungen zwischen Kleist und den Simpsons (wie auch zu Goethe und Wieland), überall spukt Kleist, vom Erdgrab bis zu wunderbar modellierten Dichterköpfen. Weil an diesem Ort einst das Geburtshaus war, kann man gleichsam mit Kleists Augen hinübersehen zur gotischen Marienkirche: ein authentischer Blick! Man geht auf Geisterfahrt auch durch Kleists Hirn, oben schweben als gläsernes Mobile die Gedanken, am Boden steht ein winziger Hocker, auf dem Sitz lesen wir: „Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel.“ So wird etwas – greifbar.

„Kleist: Krise und Experiment“, bis 29. Januar 2012 im Ephraim-Palais Berlin und im Kleist-Museum Frankfurt/Oder (Di–So, 10–18 Uhr, in Berlin Mi bis 20 Uhr. Ein Katalog erscheint Ende Juni.

„Die Kleist WG“, Große Oderstraße 26/27 in Frankfurt/Oder (Di–So 10 bis 18 Uhr)

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