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Traulicher Fleck. Der Begaswinkel bestand aus zehn Villen und war nach dem Maler Adalbert Begas benannt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Höfe (6): Der Begaswinkel in Berlin-Tiergarten: Die italienische Schneise

Früher stand gleich in der Nähe "Europas modernste Discothek", das "Sound". Dort gingen Christiane F., David Bowie und Mick Jagger ein und aus. Eigentliche Sensation in diesem verschlafenen Winkel des Tiergartens ist aber der Begaswinkel, ein kleines Villenquartier von 1872/73. Hier versteckt sich die Stadt vor der Stadt.

Nein, eine lauschige Ecke ist die Genthiner Straße wahrlich nicht. Es zieht eigentlich immer zwischen den Möbelhäusern, die auf beiden Straßenseiten hoch aufragen. Autos schleichen, damit die Fahrer die Prostituierten mustern können, die vor Schaufenstern voller Lackküchen und Ledersitzecken von einem Bein aufs andere treten. Einige tragen Kopfhörer, viele dröhnen sich anders zu. Im Keller des Gemeindehauses der Zwölf-Apostel-Kirche holen sie sich mittwochs eine Suppe, einen Kaffee oder schlafen einfach ein paar Minuten auf dem alten Sofa dort unten.

Eine ältere Prostituierte mit dunklem Stirnband steht schon seit Jahren stets an der gleichen Stelle. Ihre Augen überqueren die Genthiner und scheinen auf eine schmale Durchfahrt zwischen Möbeldiscounter und Seniorenpflegeheim gerichtet. Und es kommt einem vor, als hätte ihr Blick bereits der ehemals „modernsten Discothek Europas“ gegolten, die dort drüben bis 1988 für Schlagzeilen sorgte. Christiane F. war Stammkundin im „Sound“, auch David Bowie und Mick Jagger kamen. Aber viel öfter noch die Polizei. Heute kreist sie regelmäßig mit dem Freierverkehr um den Block.

Der Durchgang. Eine von rangierenden Lastern ramponierte Einfahrt, hingeduckt und abgestoßen. Ein von Urin angenagter Betonpfeiler kündigt demjenigen, der durch diesen Schlund geht und die Genthiner hinter sich lässt, einen Verlag und ein Hotel an. Der Hof, der sich dem Betrachter jetzt öffnet, trägt die prosaische Bezeichnung Genthiner Straße 30 A–C, F–K.

Doch man betritt eine andere Welt. So hatte sich das Ernst Klingenberg auch gedacht, als er hier 1872–73 eine Hausgruppe aus zehn Villen errichten ließ. Der Hofbaurat des Herzogs von Oldenburg entwarf als Architekt und Bauherr eine Wohnanlage, die abseits des Straßenverkehrs Ruhe und Exklusivität bieten sollte. Zeitgleich ließ Klingenberg ein ähnliches Projekt in der nahen Potsdamer Straße erreichen.

Vorbild waren die Pariser Wohnhöfe

Klingenberg suchte sein Investorenglück in der boomenden Reichshauptstadt und kopierte dafür das Konzept der Pariser Wohnhöfe. In Berlin hatte er dafür mehr Platz, er reichte sogar für Vorgärten und kleine Hintergärten. Das ganze zweigeschossige Villenensemble trägt ein zartes spätklassizistisches Gewand im bevorzugten Stil des alten Westens, bevor sich die monströsen Geschmacklosigkeiten der Gründerzeit Bahn brachen. Hier, im Rücken der Möbelhochlager, ist alles licht und leicht. Vergessen der trostlose Strich, die Parkplatzwüste, das Rauschen des Stadtverkehrs.

Die abgeschiedene Lage zog Künstler und Gelehrte an, die die Nähe zur Stadt schätzten, nicht aber ihren Lärm und ihre stete Betriebsamkeit. Zu Klingenbergs Kunden gehörte der Maler Adalbert Begas, der hinter den hohen Bogenfenstern des Obergeschosses im Haus 30 I sein Atelier hatte. Man kann die Fenster noch heute entdecken. Nach Adalbert, einem Bruder des Bildhauers Reinhold Begas, wurde das Idyll Begaswinkel genannt. Auf ihn folgten weitere prominente Künstler, zum Beispiel der Kunstkritiker und Maler Julius Meier-Graefe, der von 1903 bis 1910 im Begashaus wohnte. Zu seinen Gästen zählten Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hoffmannsthal. Verleger Samuel Fischer schaute oft vorbei, seine Büros lagen in bequemer Laufweite.

Es war eine Wienerin, die den „traulich poetischen Fleck in einer ganz stillen Ecke des lauten Berlins“ erstmals zu einer Größe im Berliner Salonleben machte. Die Malerin Luise Parmentier heiratete 1877 ihren Künstlerkollegen Adalbert Begas. Mit ihm teilte sie eine Leidenschaft für italienische Motive, für Venedig und Capri, und verließ das etwas spöttisch „Genthiner Winkeldasein“ genannte Domizil immer wieder zu ausgedehnten Studienreisen. Was sie von dort zurückbrachte, lobten die Zeitgenossen als „Meisterwerke an Stimmung, Poesie und Farbengebung“. Als Vorstand des Vereins Berliner Künstlerinnen engagierte sich Luise Begas-Parmentier dafür, dass Frauen eine künstlerische Ausbildung erhalten konnten, denn die Kunstakademien ließen Studentinnen bis 1919 nicht zu.

Mittelpunkt feingeistiger Geselligkeit

Ein großes Talent muss die früh verwitwete Malerin darin entwickelt haben, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Über ihr Wirken schreibt die Zeitschrift „Daheim“ im Jahr 1900: „Sie ist eine der beliebtesten und verehrtesten Erscheinungen der Berliner Künstlerinnenwelt, der Mittelpunkt einer feingeistigen, ungezwungenen künstlerischen Geselligkeit.“

Reich war Luise nicht, doch in ihren Gemächern im ersten Stock hielt sie Hof – bei Spaghetti und Würstchen. Hedwig Gräfin Brühl gab sich die Ehre, eine Palastdame der Kaiserin Friedrich, wie sich Kaiserin Victoria nach dem Tode ihres Mannes nannte, aber auch der berühmte Kritiker Alfred Kerr und die Tänzerin Isadora Duncan schauten vorbei im Begaswinkel.

In der Mitte dieser Hofinszenierung eines fließenden Miteinanders von Kunst und Bürgerlichkeit steht noch heute ein Brunnen am kleinen Wendeplatz, den eine Narzissfigur krönt. In der frisch geweißten Villa dahinter residiert seit 1961 die Sängerschaft Borussia zu Berlin, eine Nachkriegsgründung, die das Prinzip der Burschenschaft mit Chorproben und Corpsgeist in die Gegenwart retten will. Band und Mütze trägt man in den Farben blau-weiß-orange, und schlagend ist man zudem, wenngleich die Teilnahme an der Mensur heute als freiwillig beschrieben wird. Das „Borussenhaus“ dient auch als Wohnheim der Verbindung, die Zimmer tragen Namen wie Pommern, Schlesien und Ostpreußen. Natürlich nur für Männer und stets unter dem Motto „Frei der Bursch, frei das Lied!“. Luise Begas-Parmentier hätte sich gewundert, wer heute ihre Nachbarn sind.

Unversehrt inmitten von Trümmern

Den größten Platz im Hof nimmt der Erich-Schmidt-Verlag ein, samt einem Neubau, der sich mit erkennbarer Mühe ins denkmalgeschützte Ensemble fügt, und einer Baulücke, die sich dem aktuellen Bauboom in der Hauptstadt bislang verweigert. Erich Schmidt erwarb 1940 das Gebäude Genthiner Straße 30 G, 1941 zog sein Verlag hierher. Eine glückliche Wahl: Während die Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs fast vollständig in Trümmern lag, blieb die Firmenvilla bestehen und ist bis heute Sitz des Fachverlags. Erich Schmidt war ein zupackender Wiederaufbauer, seine Ausstellung des gesamtdeutschen Buchschaffens 1947 in Berlin gilt als Vorläufer der Frankfurter Buchmesse.

Wo ist er am stärksten zu spüren, der Reiz dieses Hofs, der sich von der Stadt abzugrenzen suchte, ohne sie zu ignorieren, sie vielmehr in genießbaren Dosen hereinbitten wollte, in den Salon, ins Atelier? Es ist sicher das kleine Hotel, das sich rechter Hand hinter dem klaffenden Rachen einer Tiefgarage in einer von Klingenbergs Villen befindet.

Ein Kleinod preußischer Italiensehnsucht. Der schrundige Durchgang, der wieder hinausführt zu Strich, Bettenlager und Pflegeheim, scheint plötzlich verschwunden.

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