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Die "Frau vom Meer" am DT, vorne Susanne Wolff.

© Eventpress Hoensch

Stephan Kimmig: "Die Frau vom Meer" am DT: Wer ist hier eigentlich verrückt?

Stephan Kimmig inszeniert "Die Frau vom Meer" am Deutschen Theater Berlin. Ibsens Ehe- und Familienhöllenstück: Freiwillig komisch? Unfreiwillig tragisch? Oder gar beides?

Was die Arztfamilie Wangel da in ihrem schicken Holzbungalow am Fjord veranstaltet, ist ein klarer Fall für den Familientherapeuten. Die verhaltensauffälligen Medizinertöchter aus erster Ehe, Bolette und Hilde, sind mit düsteren Lilien- und Altarkerzen-Arrangements zugange, um die Gartenanlagen zu einer Art Totenschrein für ihre vor Jahren verstorbene Mutter umzugestalten. Und weil ihr Vater der irrigen Annahme unterliegt, seine zweite Frau Ellida würde sich an derartigen Gedenkfeierlichkeiten stören, geschieht das unter äußerst realitätsverdrängenden Vorwänden.

Kein Wunder also, dass sich Bolette (Franziska Machens) und Hilde (Lisa Hrdina) mit den Gelegenheitsbekannten aus dem Kreativprekariat, Lyngstrand (Benjamin Lillie) und Ballested (Timo Weisschnur), immer mal wieder spontan zu einer kleinen Technomucke durchschütteln müssen. Denn was passiert, wenn man auf derartige Entkrampfungsmaßnahmen verzichtet und Lebenslügen sich stracks in der Körpererstarrung materialisieren, sieht man am amtsärztlichen Familienoberhaupt Wangel selbst – und das aus gefühlten hundert Metern Entfernung. Steven Scharf, Stargast von den Münchner Kammerspielen, spielt ihn als bebrillten Hyperklemmi, der zur Herstellung seines Dauergrinsens wahrscheinlich Antidepressiva einwirft und ansonsten durch Frauenversteher-Penetranz auffällt.

Ibsens "Frau vom Meer" erscheint ein reizvoll Fremder

Daran, dass seine zweite Gattin Ellida in dieser pathologischen Prozac-Hölle der einzige einigermaßen gesunde Mensch ist, kann man eigentlich nicht zweifeln – so unverkrampft frisch und vermeintlich badenass, wie Susanne Wolff im Deutschen Theater als Titelheldin zunächst das Depri-Szenario (Bühne: Katja Hass) betritt. Dabei scheint diese „Frau vom Meer“ – Tochter eines Leuchtturmwärters und erklärte Verfechterin des ozeanisch „Grenzenlosen“ – in Henrik Ibsens 1889 uraufgeführtem Fünfakter an handfesten Wahnvorstellungen zu laborieren: Regelmäßig erscheint ihr ein so reizvoll wie beängstigend konventionsbefreiter „Fremder“; eine Art Inkarnation des Meeres selbst, dem sie sich einst vor der spießigen Amtsarztheirat in einem rührend maritimen, nicht ganz ernst genommenen Ritual anvermählt hatte.

Und je trüber sich die Ehe mit dem Amtsarzt gestaltet, desto hartnäckiger sucht dieser Seemann sie der Holzbungalow-Tristesse zu entreißen – ein gebürtiger Finne übrigens, dessen erster Auftritt am DT tatsächlich mit einem finnischen Tango untermalt wird, während Ellida, in der Yogastellung des zusammengerollten Blattes am Boden liegend, minutenlang Möwenschreie ausstößt. Die Frage, ob es sich hier um eine Komödie oder eine Tragödie, um freiwillige oder unfreiwillige Komik handelt, ist nicht die einzige, die an diesem Abend offenbleibt.

Stephan Kimmig zeigt sich ratlos

Tatsächlich stellt Stephan Kimmigs Inszenierung ihre eigene Ratlosigkeit und auch ihr Befremden über den Stoff – nicht eben hyperaktuell in Zeiten der Selbstverwirklichungsimperative und großkoalitionären Frauenquoten-Diskussionen – überdeutlich aus. Mit dem Ergebnis allerdings, dass auch der Zuschauer sich bald fragt, was er hier eigentlich gesehen hat.  

So kriegt der auch von Wangel-Darsteller Steven Scharf gespielte „Fremde“ bei seinem zweiten Auftritt zwar keinen Tangosound mehr. Andererseits erfolgt seine Verwandlung vom Spießerarzt zum Anarcho-Seemann diesmal offenkundigst: Auf offener Bühne legt er die Klemmi-Brille ab und eine Wollmütze an – also dürfte die Antwort auf die wohl größte Frage, wer hier eigentlich verrückt ist, klar zu Lasten des biederen Kreismediziners und seiner antiquierten Jekyll-und-Hyde-Existenz ausfallen. Kaum aber hat man sich darauf eingegroovt, statt eines Psychodramas einer Art „Shining“-Parodie mit lustigen Trash-und-Thrill-Effekten beizuwohnen, hockt das Ehepaar Wangel wieder bierernst in der Schlafzimmer-Tristesse und arbeitet die Sache mit dem „fremden Mann“ im Gestus eines Ingmar-Bergman-Ehedramas auf – Seitensprünge in die Vorabendsoap inklusive.

Die Merkel-Raute als Eierstocksymbol

Punktuell geht das ganz lustig dahin, zumal Susanne Wolff und Steven Scharf meist die nötige Genre-Souveränität beweisen; die seltsam blass bleibenden Nebenhandlungen um die Töchter nebst Anhang ziehen die Sache leider enervierend in die Länge. Immerhin enthält der Abend erfreulich interpretationsoffene Darstellungselemente. Schon angesichts der Merkel-Raute als einer Art Eierstocksymbol – Ellida Wangel wendet diesen Körperspracheffekt semiironisch an, wenn sie an ihre (schmerzliche) Schwangerschaft zurückdenkt – ließe sich bestimmt manch postperformative Foyerdiskussion bestreiten.

Nächste Vorstellungen: 30. November und 6. Dezember

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