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Bio-Kunst: Mutiertes Gemüse als Kunstobjekte

Möhren mit Beinen, Tomaten mit Nasen – wie der Künstler Uli Westphal das Verhältnis von Mensch und Natur untersucht.

Es war auf dem Markt am Maybachufer. Sie lag an einem Gemüsestand, fast schwarz, mit einer sanft geschwungenen Form. Aus einer Laune der Natur heraus war sie verquer gewachsen, fünf Früchte in einer, wie die Finger einer Hand. „Eine Form, die eine Geschichte erzählt, die Fragen aufwirft.“ Dabei war es nur eine Aubergine. Uli Westphal betrachtete sie verblüfft und trug sie nach Hause.

Wenig später beginnt der Künstler sein Projekt „Mutatos“. Er beugt sich über einen Stadtplan und entwirft Routen, wie er an einem Tag möglichst viele Wochenmärkte besuchen kann. Und dann sammelt er: Möhren mit Beinen. Tomaten mit Nasen. Zitronen wie Oktopusse. Schlangengurken. Hunderte verrückte Formen, die aussehen, als kämen sie von anderen Planeten. Westphal fotografiert eine Frucht nach der anderen. Anschließend geht er in die Küche und kocht.

Er baut einen Blauwal nach, aus Plastik

Sechs Jahre ist es her, dass Uli Westphal nach Berlin kam und anfing, Mutatos zu suchen. Nun sitzt er an einem großen, leeren, weißen Tisch in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg. 31 Jahre ist Westphal alt, hager, die langen Haare hat er zum Zopf gebunden. Er ist im Münsterland aufgewachsen, in Ahaus, einer 30.000-Einwohner-Stadt. „Wir hatten einen großen Garten und eine riesige Tiersammlung: Reptilien, Hühner, ein Ferkel jedes Jahr. Und Wilma, eine richtig fette Ziege, die hatte immer einen roten Schal um den Hals.“

Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist schon immer das Grundthema seiner Arbeiten. Als Kind entdeckt Westphal in einem Buch die Abbildung eines Blauwals, daneben ein Taucher. „Dieses Größenverhältnis von Tier zu Mensch war faszinierend.“ Jahre später beginnt er, Bilder von „Menschen neben großen Fischen“ zu sammeln, es entsteht die Arbeit „Leviathan“: ein lebensgroßes Blauwalmodell, ein Plastiksack, 36 Meter lang, sechs Meter im Durchmesser.

Der Berliner Künstler Uli Westphal.
Der Berliner Künstler Uli Westphal.

© privat

Vitrinen voller Fossilien, Mineralien und Muscheln

Oder „Chimaerama“. Tierabbildungen aus einem Buch von 1843, ein paar Jahre bevor die Evolutionstheorie publik wurde. „Mein Urgroßvater hat das Buch in der Familie weitergereicht. Wunderschöne Kupferstiche, mit Aquarell eingefärbt. Ich habe die Bilder eingescannt und so arrangiert, dass man jedes Tier dreiteilen kann. Jede Mitte passt an jeden Kopf und jeden Schwanz.“ Westphal klappt den Laptop auf. Auf dem Bildschirm ist der Kopf einer Schnecke zu sehen – mit dem Körper eines Rhinozeros und dem Schwanz eines Warzenschweins. Aus 100 Tieren lassen sich eine Million Chimären bilden. „Das hier müsste ein Schnerhinoschwein sein.“

Im Jahr 2000 beginnt Uli Westphal sein Studium an der Kunstakademie im niederländischen Enschede. Dabei ist er in einer naturwissenschaftlichen Familie aufgewachsen. Seine Eltern sind Ärzte. Und das Haus seines Großvaters war eine Kuriositätenkammer: mit Vitrinen voller Fossilien, Mineralien und Muscheln. „Ich fand Archäologie fantastisch, Geologie und Physik. Ich hatte so viele Interessen und konnte mich nicht entscheiden. Mit der Kunst konnte ich die Dinge offenhalten.“

Elefant mit Vampirzähnen

Westphals wissenschaftlicher Ordnungssinn liegt auch seiner Abschlussarbeit zugrunde, die er nach seinem Wechsel an die Berliner Universität der Künste schreibt. Für „Elephas Anthropogenus“ sammelt er Darstellungen von Elefanten zwischen dem 9. und 18. Jahrhundert. Auf manchen Bildern haben die Tiere Krallen und Vampirzähne, auf anderen sehen sie schweineartig aus, mit einem runden, gedrungenen Körperbau. Wieder andere haben Pferdehufe und Trompetennasen.

Der Künstler erklärt das so: Vom Mittelalter bis zur Renaissance waren Elefanten aus Europa verschwunden. Die Menschen kannten nur noch die Überlieferungen aus den Zeiten des Römischen Imperiums, als Elefanten als Schau- oder Arbeitstiere zum Alltag gehörten. Sie wussten, dass ein Elefant große Ohren und einen Rüssel hat – aber letztlich mussten sie sich den Elefanten selbst ausdenken. Über die Jahrhunderte entstand eine Evolution von Elefantendarstellungen, die ständig weiter mutierten. Diese Abbildungen hat Uli Westphal in einem Stammbaum geordnet und damit die Entwicklungsgeschichte des Elefantenbilds geschrieben.

Tomaten als Designprodukte

„Eigentlich faszinieren mich am meisten diese Missverständnisse“, sagt Westphal. „Bei den Elefanten waren es Fehlinterpretationen, weil es kein echtes Vorbild gab. Bei den ,Mutatos’ ist es so, dass die Leute denken: Alle Tomaten, alle Gurken, alle Paprika sehen gleich aus. Aber die sehen nur so aus, weil sie von der industriellen Landwirtschaft so produziert werden. Sie sind zu Designprodukten geworden. Wir beurteilen unser Essen nach Schönheitsidealen. Wenn etwas von der Norm abweicht, sind wir misstrauisch.“

Ja, sagt Uli Westphal, seine Arbeiten werden immer politischer. Und sie drehen sich immer mehr ums Essen. Für „Supernatural“ kauft er bei Netto, Aldi und Lidl alles ein, was Tier- oder Landschaftsdarstellungen auf der Verpackung hat. Aus den Bildern setzt er am Computer utopisch schöne Landschaften mit Berghängen, grasenden Kühen und Bachläufen zusammen. „Urdeutsche Landschaften, mit denen die Menschen Natürlichkeit verbinden und deshalb glauben, sie würden etwas Natürliches kaufen.“

Der Künstler und seine Dachplantage

Was ist Kultur, was ist Natur? Gemüse jedenfalls, sagt Westphal, ist eine Schnittstelle zwischen beiden. Seit kurzem fährt er regelmäßig ins Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung nach Gatersleben bei Magdeburg. 150.000 Kulturpflanzenmuster sind dort archiviert. Damit die Samen keimfähig bleiben, muss jedes Jahr ein bestimmter Prozentsatz aus dem Archiv angebaut werden. „Ein unglaubliches Spektrum von Formen und Farben. Am liebsten würde ich die nächsten 50 Jahre dorthin fahren und dokumentieren, was die anbauen.“

Längst hat sich der Künstler eine eigene Dachplantage zugelegt – mit selbstbewässernden Kübeln, einer selbst kreierten Erdmischung und ausgefallenen Gemüsesorten: von Reisetomaten bis zu mexikanischen Sauergurken. Er baut an, fotografiert und kocht. Es gebe da durchaus auch ein kulinarisches Interesse, sagt er. „Man hat ja eine riesige geschmackliche Vielfalt. Manche Tomaten sind sauer wie Zitronen, andere süß wie Honig.“

Ob das Kunst ist, ist Uli Westphal egal. Er will die verschwundenen, in Vergessenheit geratenen Formen visualisieren. Jedes Jahr behält er ein oder zwei Sorten, die er am liebsten mag, um sie permanent anzubauen. Seine Plantage soll wie eine Arche sein. „Für die absolut skurrilsten und unstandardisiertesten Gemüsesorten, die ich finden kann.“

Uli Westphals Arbeit „Supernatural“ wird noch bis 30.1.2012 gezeigt in der Ausstellung „Museumsbauhütte II“, Museum der Dinge, Oranienstraße 25, Kreuzberg. Weitere Informationen unter http://uliwestphal.de.

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