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Atomtransporte: Wenn der Frust entgleist

Ein Zug mit Atommüll rollt am 5. November nach Gorleben. Wie jedes Jahr wird Bernhard Schmidt dabei sein. Er ist Polizeibeamter und Gewerkschafter. Demonstrationen gegen die Castortransporte sind Ritual geworden. Doch dieses Mal könnte es anders kommen.

Wenn Bernhard Schmidt den Traktor auf dem Bahnübergang in Grippel bei Gorleben sieht, wird er erleichtert sein. Vielleicht wird es auch ein Leichenwagen sein, auf die Gleise geschoben, als letztes, mahnendes Hindernis, das sie wegräumen müssen. Welches Fahrzeug auf sie wartet, kann man nie so genau sagen. Beide sind das Zeichen dafür, dass der Einsatz in Gorleben bald vorbei ist. Denn wenn der Castortransport in Grippel angelangt ist, dann ist er schon fast im Zwischenlager. Schmidt, 58, wird dann wissen, ob alle Polizisten heil nach Hause kommen werden. Oder ob die Proteste gegen den Transport diesmal eskaliert sind.

„Die Proteste sind in den vergangenen Jahren zu einem Ritual geworden“, sagt Bernhard Schmidt, groß, kräftig, graues Haar. Demonstranten und Polizisten wüssten genau, wie sich die anderen verhalten. Doch dieses Jahr ist vieles anders als sonst. Die Regierung hat den Atomkonsens ihrer rot-grünen Vorvorgängerin aufgehoben. Sogar viele CDU-Parlamentarier fühlen sich davon überrollt, Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte am Montag, die neuen Laufzeiten seien nicht sachlich begründet, sondern ausgehandelt worden und schürt damit den Konflikt. Die 17 Atomkraftwerke in Deutschland sollen durchschnittlich je zwölf Jahre länger Strom liefern als bisher geplant. Dadurch fallen nach Greenpeace-Angaben bis zu 4800 Tonnen mehr hochradioaktiver Müll an. In Castorbehälter umgerechnet, ergibt das über 500 zusätzliche. Es ist eine einfache Gleichung: Wenn in Berlin die Gesetzesschraube angezogen wird, kocht in Gorleben die Wut hoch. Zumal jetzt, da das Moratorium in Gorleben geendet hat.

Der Salzstock soll wieder auf seine Eignung als Endlagerstätte erforscht werden, obwohl es viele Gründe dagegen gibt. So warnte Greenpeace am Dienstag in Berlin vor Gasvorkommen in der Tiefe, die sich entzünden könnten. Auch Gerichte beschäftigt die Sache. Die alte Atomdebatte ist wieder da und mit ihr das ungute Gefühl, dass die Beteiligten zu weit gehen könnten, so weit, Kabelbrände zu legen wie bei der Berliner S-Bahn.

Bis vor kurzem glaubte Bernhard Schmidt noch, den Ablauf in Gorleben genau zu kennen. Seit 40 Jahren ist er Polizist, immer schon arbeitete er bei Demonstrationen, er war dabei, als 1996 das erste Mal Castortransporte in das deutsche Zwischenlager rollten und danach jedes Mal wieder, an vorderster Front und immer ohne Schutzanzug und Uniform. Denn seit 15 Jahren ist Schmidt freigestellt, als Personalrat von der Polizeigewerkschaft GdP, in Gorleben betreut er die Berliner Bereitschaftspolizisten.

Er müsste nicht dabei sein, doch er sagt: „Wenn ich später die Interessen meiner Kollegen vertreten soll, muss ich schließlich wissen, was alles passiert ist.“ Deshalb fährt er schon vor dem Einsatz nach Gorleben, sieht sich die Unterkünfte für seine Kollegen an, trifft sich mit der Einsatzleitung in Lüneburg. Wenn es losgeht, ist er einfach da, vor allem dann, wenn seine Kollegen reden wollen, wenn „sie sich auskotzen wollen“, wie Bernhard Schmidt sagt, mit starkem Berliner Akzent. Polizisten seien nicht mehr so harte Jungs wie in den 80er und 90er Jahren, sagt er. Heute schluckten sie nicht mehr einfach herunter, was sie erleben.

Als noch alles war, wie Schmidt es kannte, fand in Gorleben einen Tag, nachdem der Zug mit den Castorbehältern in Frankreich abgefahren war, die Auftaktdemonstration statt. Man zog zum Zwischenlager, ein paar Menschen blieben danach auf der Straße sitzen, die Polizisten trugen sie fort, natürlich schrieen ein paar dabei. Aber der Castor war noch weit weg, die Stimmung insgesamt ruhig. Danach kam die Schülerdemo, 500 Jugendliche zogen durch die Straßen von Lüchow, riefen „Wi-der-stand“, warfen ein paar Eier auf die Beamten. Je näher der Zug mit dem Atommüll kam, desto aufgeregter waren die Menschen. Es folgten Sitzblockaden, ein paar Tumulte. Und dann war Grippel da, 2008 war das Zeichen ein Traktor. In aller Ruhe schafften die Beamten das Gefährt beiseite, trugen wieder Demonstranten fort. Danach wurden die Castoren auf Lastwagen verladen und ohne weitere Zwischenfälle in die Lagerhalle gefahren, wo nun 91von ihnen auf eine Lösung warten.

Bernhard Schmidt hat keine schlechten Erinnerungen an die Demonstrationen in Gorleben, im Jahr 2008 beschimpften nicht alle die Polizei, von manchen Atomkraftgegnern, die sich mehrheitlich mit dem Ausstiegskompromiss arrangiert hatten, fühlte er sich sogar respektiert. Als er mit Jeans und T-Shirt zwischen den Polizisten stand, beobachtete er, wie ein Demonstrant ein Ortsschild ausgrub und später zum Bauern sagte: Sehen Sie sich mal an, was die Polizisten anrichten. Der Bauer sagte: Junge, halt mal die Luft an, das wart ihr, nicht die Polizei. Eine junge Polizistin neben Schmidt fasste Vertrauen und fragte daraufhin den Bauern: Darf ich Ihre Toilette benutzen. Da antwortete der Bauer höflich: Nein, tut mir leid, ich kann Ihre Präsenz hier nicht unterstützen. „Es war ein menschlicher Umgang, die Fronten waren geklärt“, sagt Schmidt.

Dieses Jahr, fürchtet er, werde er solche Situationen nicht erleben. Er ist sich sicher, dass mehr Demonstranten auch mehr Radikale bedeuten. Er nennt sie „diejenigen, die nur da sind, weil sie jemanden verkloppen wollen, am besten einen Polizisten“.

Widerstandscamps gab es immer schon in Gorleben, in denen sich Männer und Frauen schwarz vermummt auf die Demonstrationen vorbereiteten, in kleinen Gruppen loszogen und schon mal Steine warfen. Aber die Mehrheit der Wendländer Protestbewegung ist im bürgerlichen Milieu verankert. Wenn viele schwarz Vermummte kommen, dann rechnet Bernhard Schmidt mit dem Schlimmsten. Er kennt sie von Demonstrationen in Berlin. Im Juni erst wurden zwei Polizisten aus seiner Einheit bei der Veranstaltung „Wir zahlen nicht für eure Krise“ schwer verletzt. Ein Sprengsatz wurde zwischen ihre Beine geworfen.

Wenn man Bernhard Schmidt jetzt fragt, wie die Stimmung dieses Jahr vor Gorleben ist, verschränkt er die Arme, sucht nach den richtigen Worten. „Sagen wir so: angespannt.“

Schon seit Wochen bereitet sich alles auf diesen Samstag vor. Ende Oktober demonstrierten 20 000 Menschen entlang der Bahnstrecken zwischen Gorleben und La Hague, Akw-Gegner haben Attrappen von Atommüllfässern von Gorleben bis vor den Bundestag gerollt, sie haben vor dem Brandenburger Tor Sitzblockaden geübt und wie man sich verhält, wenn die Polizei einen wegtragen will.

Protest, das ist immer eine Frage von Zahlen. Diesmal wird mit 50 000 Menschen in Gorleben gerechnet. Die Gewerkschaft der Polizei erwartet deshalb viel mehr Wi-der-stand als in den vergangenen Jahren. Mindestens 16 500 Polizisten sollen dieses Jahr garantieren, dass alles friedlich verläuft. Knapp 600 Polizisten von ihnen wird Bernhard Schmidt betreuen. Beim vergangenen Castortransport im Jahr 2008 waren rund 15 000 Demonstranten in Gorleben. Ihnen standen damals 10 000 Polizisten gegenüber.

Ein Gradmesser, wie anders es sich in Gorleben dieses Jahr darstellen könnte, sind auch die Proteste gegen das Bauprojekt „Stuttgart 21“. Es hat den Bürgern ein neues Bild für ihren Unmut gegeben, vor allem das von dem Mann, den die Polizisten mit einem Wasserwerfer an den Augen verletzt haben. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, sagte später, die Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“ zeigten, dass das Gewaltpotenzial in der Gesellschaft gestiegen sei.

Die Bürger sind aufgebracht, sie sind wütend, und das zeigen sie. Immer schon gab es Ärzte, die sich weigerten, einen verletzten Polizeibeamten zu behandeln. Immer schon Aktivisten, die sich an Gleise ketteten. Doch dieses Jahr wird mehr passieren als das, fürchtet Bernhard Schmidt. „In Gorleben werden wir das gleiche Problem haben wie in Stuttgart“, sagt er. „Die Bürger fühlen sich von den Politikern hintergangen.“

Er sagt „die Bürger“ und meint: wir. Auch er ist gegen Atomkraft, auch er ist unzufrieden damit, wie es gerade läuft. „Die Politiker tun so, als hätten die Wähler mit dem Wahlschein ihre Rechte abgegeben und müssten jetzt einfach alles akzeptieren, was sie entscheiden.“ Schmidt schüttelt den Kopf und meint: So geht das nicht. Er ist verärgert, sagt, „wir müssen bei den Protesten Politiker vertreten, die nicht bereit sind, sich selbst vor die Bürger zu stellen, wenn es Widerstand gibt“. Atomkraftwerke hätten seiner Meinung nach schon längst abgeschaltet werden müssen. Wenn er nicht arbeiten müsste, würde er vielleicht selbst demonstrieren. Aber Bernhard Schmidt wird wie jedes Jahr auf der anderen Seite stehen.

Daran, dass ein paar Demonstranten ihn und seine Kollegen „Scheißbullen“ nennen oder „Arschlöcher“, hat er sich gewöhnt. Nur einmal ertrug Bernhard Schmidt es nicht. Es war bei einer Demonstration in Berlin, er kontrollierte die Taschen der Teilnehmer. Als er eine junge Frau bat, die Handtasche zu öffnen, griff sie ihm an die Brust, riss die Hemdtasche auf. Schmidt verlor kurz die Selbstbeherrschung und stieg ihr auf die Füße.

In Gorleben ist es nicht einfach, die Beherrschung zu wahren. „Es ist hart, auch in normalen Jahren. Wenn man um acht Uhr abends auf einem Feld im Wendland steht, es stockdunkel ist, der Wind pfeift und man weiß, dass man noch zehn Stunden stehen bleiben muss, da kann man schon mal durchdrehen“, sagt Schmidt. Vor einigen Jahren fragte er sich, ob er wirklich Polizist sein wollte. Er überlegte genau, haderte: „Als Polizist muss ich Recht durchsetzen. Doch Recht ist nicht Gerechtigkeit.“ Dann sagte er sich: „Aber wenn die Polizei nicht Recht durchsetzt, dann leben wir in einem Polizeistaat.“ Er blieb Polizist. Doch von dem Bild, das seinesgleichen als Freund und Helfer zeigt, hat er sich verabschiedet. „Wer das nicht tut, geht ein“, sagt er. „Proteste richten sich gegen den Staat, und wir sind die personifizierte Staatsgewalt. Da müssen wir durch.“ Aufatmen kann er erst, wenn er den Traktor sieht in Grippel. Oder den Leichenwagen.

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