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Menschenmeer und Wut, die sich entlädt. In Kiew haben auch am Sonntag wieder hunderttausende Ukrainer gegen den pro-russischen Kurs ihrer Regierung protestiert.

© dpa/Reuters

Demonstrationen in Kiew: Ukrainischer Richtungswechsel

In Kiew haben auch am Sonntag wieder hunderttausende Ukrainer gegen den pro-russischen Kurs ihrer Regierung protestiert. Wie angespannt ist die Situation vor Ort?

Staatspräsident Janukowitsch und Regierungschef Asarow hinter mit Weihnachtskugeln geschmückten Gittern – so stellt sich auf einem Plakat die ukrainische Opposition das Jahresende vor. Doch der Weg zum Machtwechsel erwies sich auch am Sonntagmittag als steinig und schwierig. Den Aufruf zum Millionen-Protestmarsch durch Kiew waren bei Minustemperaturen und einem besonders kalten Wind erneut Hunderttausende Ukrainer gefolgt. Der ganze zentrale Unabhängigkeitsplatz, der Maidan, war zu beiden Seiten voll von EU- und Ukraine-Flaggen schwenkenden Demonstranten. Daneben zogen wie schon am vergangen Sonntag Hunderte in weiteren Gruppen durch die Stadt. Doch eine Mobilisierung wie zu Zeiten der „orangen Revolution“ von 2004 war auch dies wieder nicht.

Auf der zentralen Tribüne zeigte sich am Sonntag Julia Timoschenkos Tochter Jewgenia neben dem oppositionellen Triumvirat Klitschko-Arsenjuk-Tjanibok. „Unser Ziel ist die Abdankung Janukowitschs sowie vorgezogene Präsidentschaftswahlen“, schrieb die bekannteste politische Gefangene des Landes. Begründet wird die Forderung der Opposition mit Staatspräsident Wiktor Janukowitschs sofortigem Stopp der EU-Integration sowie der brutalen Niederschlagung des ersten Maidans vor gut einer Woche. Laut Boxweltmeister und Oppositions-Hoffnungsträger Witalij Klitschko wurden damals 62 friedliche Demonstranten krankenhausreif geschlagen. „Wir müssen eine erneute Gewaltlösung unmöglich machen“, schreibt Timoschenko aus ihrer Krankenhauszelle.

Gegen Abend spitzte sich die Situation in Kiew zu

Von der Tribüne wurden deshalb zwischen politischen Brandreden und Rock-Konzerten immer wieder Aufforderungen verlesen, sich nicht provozieren zu lassen und den Unmut nur mit friedlichen Mitteln auszudrücken. Doch die Sprache auf beiden Seiten wird aggressiver, seit Ministerpräsident Mykola Asarow die Demonstranten am Rande des OSZE-Außenministertreffens als „Nazis und Extremisten“ beschimpft hatte.

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Gegen Abend spitzte sich die Situation auf dem Maidan zu, teils maskierte Demonstranten stürzten eine Lenin-Statue. Sie schwenkten laut Polizei die Flagge der nationalistischen Freiheitspartei (Swoboda) und feuerten Leuchtgeschosse ab. Für ukrainische Nationalisten ist Lenin als Begründer der Sowjetunion eine Hassfigur. Derweil machten die Sicherheitsbehörden Ermittlungen gegen die Opposition wegen angeblicher Umsturzversuche bekannt. Auslöser könnte der Aufruf des früheren Außenministers Arseni Jazenjuk zur Blockade des Regierungsviertels in Kiew gewesen sein. Der mit staatsanwaltlichen Befugnissen ausgestattete Inlandsgeheimdienst SBU teilte nach Angaben der Agentur Interfax mit, dass ein versuchter Staatsstreich mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis bestraft werden könne. Es wurden keine Angaben darüber gemacht, gegen wen die Justiz ermittelt.

Die Erfahrung der „orangen Revolution“ hat die Ukrainer misstrauisch gemacht

Der angesehene Schriftsteller Jurij Andruchowitsch verlas am Sonntag auf dem Maidan ein Manifest. Er forderte die Freilassung aller, die bei den Straßenschlachten des 1. Dezember vor dem Präsidentenpalast festgenommen wurden und bezeichnete die neun jungen Demonstranten als „politische Gefangene“. Zudem will Andruchowitsch den Abzug aller Sicherheitskräfte aus Kiew und anderen protestierenden Städten und eine Garantie, dass die Demonstranten nicht politisch verfolgt werden. „Wir zählen darauf, dass die Opposition keine Verhandlungen mit der Regierung beginnt, bevor diese Forderungen erfüllt sind“, sagte Andruchowitsch. Denn es zeigt sich immer deutlicher, dass viele Protestierende auch der Opposition nur eingeschränkt vertrauen. Die Erfahrung der „orangen Revolution“ hat die Ukrainer misstrauisch gemacht.

Janukowitschs heutige Staatsmacht indes ist besser auf Proteste vorbereitet als vor der „orangen Revolution“ 2004. Eine Million Demonstranten vermochte die Opposition am Sonntag zwar nicht zu mobilisieren, doch verglichen mit Janukowitschs „Partei der Regionen“ (PRU) kann sie einen großen Erfolg verbuchen. Auf der Gegenveranstaltung der PRU fanden sich laut dem regierungsnahen Portal segodnya.ua nur 2000 pro-russische Demonstranten ein, die meisten von ihnen Beamte.

In Kiew kursierte am Sonntag immer noch das Gerücht, Putin und Janukowitsch hätten sich am Freitag in Sotschi auf einen Beitritt der Ukraine zur „Eurasischen Zollunion“ geeinigt. Kiew soll dafür das Erdgas künftig für den halben Preis sowie einen zweistelligen Milliarden-Dollar-Kredit erhalten. Der Kreml und Janukowitsch dementieren.

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