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Kolumne "Mon Berlin": Brüderles Dirndl-Bemerkung versus Realität

Deutschland, das Land der lüsternen Machos? Mitnichten, findet unsere Kolumnistin Pascale Hugues - sie beobachtet die Sexismus-Debatte seit Wochen mal perplex, genervt oder belustigt. Und meint: Die Probleme der Realität bleiben auf der Strecke.

Schon merkwürdig. Fragen Sie eine Italienerin, eine Spanierin oder eine Französin, was ihr in Deutschland fehlt. Sie werden hören: die Blicke zwischen Männern und Frauen auf der Straße, das kleine Kompliment in der Kantine. Sie werden hören, dass sie sich hierzulande transparent fühlt und dass der Flirt eine wenig praktizierte Kunst ist.

Ja, ich stimme Joachim Gauck zu. Mir kommt es auch nicht so vor, als würde ich im Land der lüsternen Machos leben, die alle Frauen mit den Blicken ausziehen und nur einen Gedanken kennen: sie ins Bett zu rollen. Aber in der letzten Zeit kommt es mir immer mehr so vor, als lebte ich in einem Wald der moralisch erhobenen Zeigefinger. Ein „Tugendfuror“, ja.

Perplex beobachte ich die seit Wochen wogende Diskussion über den allgegenwärtigen Sexismus. Sie geht mir auf die Nerven, lässt mich erstarren und manchmal in schallendes Gelächter ausbrechen. Was diesen heftigen Aufstand, diese Kaskade von Abrechnungen ausgelöst hat: ein beleibter älterer Herr, der zweifellos ein Glas über den Durst getrunken hatte und es sich, als er eines Abends an einer Hotelbar lehnte, leider nicht verkneifen konnte, den Blick in das appetitliche Dekolleté einer jungen Frau zu versenken. Und eine Bemerkung von kläglicher Biederkeit zu machen: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“

Oh nein, Rainer Brüderle ist weder ein Charmeur noch ein Virtuose des leichtfüßigen, geistreichen Kompliments. Und ganz sicher entspricht er nicht dem Erscheinungsbild des Latin Lover. Armer Brüderle, er wurde sogar mit unserem DSK, unserem Nationalhelden Dominique Strauss- Kahn, verglichen! Zwischen einem Mann, der versucht haben soll, ein Zimmermädchen zu vergewaltigen und der sich systematisch an alle Frauen heranmacht, die ihm über den Weg laufen, und einem Papi, der von einer letzten Aufwallung von Frühlingsgefühlen übermannt wird – ein himmelweiter Unterschied. Dominique Strauss-Kahn und Rainer Brüderle kann man einfach nicht vergleichen.

Was mich besonders irritiert: Warum hat die betreffende Journalistin sich in der Opferrolle installiert? Wie hat sie an jenem Abend in der Hotelbar reagiert? Was macht man, wenn ein älterer Herr sich zu einer Anzüglichkeit hinreißen lässt? Man zuckt die Schultern. Man dreht sich auf dem Absatz um. Man weist ihn scharf zurecht. Man geht mit Witz zum Gegenangriff über. Manche Extremistinnen raten zur Ohrfeige. Aber man wälzt diesen kleinen Zwischenfall nicht monatelang um und um und rächt sich im Nachhinein in der Presse. Umso mehr, als Brüderle weder Vorgesetzter noch Arbeitgeber der Journalistin war. Sie hatte nicht viel zu verlieren, wenn sie ihn klar auf seinen Platz verwies.

Ich werde an dieser inflationären Debatte nicht noch weiterbauen, sondern einfach eine Fußnote beitragen, die mir wichtig ist und die hoffentlich zum Ausgleich beitragen wird: Haben Sie, meine Herren, schon einmal zugehört, wenn Frauen die Virilität und das erotische Potenzial von Männern vergleichen? Haben Sie schon einmal die lauten Lachsalven gehört? Wir Frauen sind von ganzem Herzen dabei und machen sie zur Schnecke. Und ich kann Ihnen versichern, dass Herrn Brüderles Dirndl dagegen ein Pipifax ist.

Mich überrascht immer wieder der Gegensatz zwischen einem sehr formalistischen Feminismus einerseits („man“ durch „frau“ ersetzen, die Grammatik in Richtung Unisex umbauen) und den so geringen Fortschritten in der Realität andererseits. Ehrlich gesagt, kann ich die quälende Auseinandersetzung über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht mehr hören. Es ist immer schwierig, beides zu vereinbaren, auch in Frankreich, wo seit Langem alles getan wird, damit Frauen Vollzeit arbeiten können. In Berlin sind wir wirklich privilegiert. Aber in Baden-Württemberg oder Bayern ist das fast unmöglich. Fehlende Strukturen für die Unterbringung der Kleinsten, Moralkeule, wenn eine Mutter ihr Kleinkind ein paar Stunden am Tag einer staatlichen Einrichtung anvertraut – mehr als eine Frau wird da entmutigt. Hier findet die wahre Debatte statt.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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