zum Hauptinhalt
Die pure Not: Wie diese Frauen und Kinder versuchten am Wochenende viele syrische Kurden das Nachbarland zu erreichen.

© AFP

Update

Zehntausende Kurden aus Syrien fliehen vor "IS": Auffanglager wider Willen

Der Strom an Flüchtlingen reißt nicht ab: Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sollen bereits etwa 100.000 Flüchtlinge aus Syrien in die Türkei geflohen sein. Derweil rückt die Terrormiliz IS auf die Kurdenstadt Ain al-Arab vor.

Sie kommen über die staubige Ebene, viele haben nicht mehr retten können, als die Kleidung, die sie am Leib tragen: Rund hunderttausend Kurden aus Syrien sind am Wochenende auf der Flucht vor der Gewalt der Dschihadisten-Miliz Islamischer Staat (IS) in die benachbarte Türkei geströmt. Gefechte zwischen dem IS und Verbänden der syrischen Kurden toben nur rund 15 Kilometer von der Grenze entfernt, einige Flüchtlinge berichteten von Enthauptungen in Dörfern, die vom IS erobert wurden. Kurdenpolitiker warfen Ankara vor, trotz der Gefahr jede Unterstützung für die syrischen Kurden im Kampf gegen den IS zu verhindern und so den Extremisten zu helfen.

Die Kämpfer der Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS) sind nach Angaben von Aktivisten in den syrischen Kurdengebieten weiter auf die Stadt Ain al-Arab vorgerückt. Die IS-Milizionäre hätten sich der Stadt an der Grenze zur Türkei mit einst 450.000 Einwohnern bis auf ein Dutzend Kilometer genähert, sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, am Sonntag. In die Türkei geflüchtete Kurden berichteten der Nachrichtenagentur AFP von Hinrichtungen in den vom IS eroberten Gebieten.

IS-Kämpfer sollen mehr als 60 Dörfer erobert haben

Bei ihrer Offensive haben die IS-Kämpfer der Beobachtungsstelle zufolge seit Donnerstag mehr als 60 Dörfer erobert. Seit Dienstag seien 27 kurdische Kämpfer und 39 Dschihadisten bei Gefechten getötet worden, teilte die Beobachtungsstelle mit.

Demnach stammen die getöteten IS-Milizionäre überwiegend aus der russischen Region Tschetschenien und den arabischen Golfstaaten. Mindestens elf Menschen seien von IS-Angehörigen hingerichtet worden. Die Beobachtungsstelle stützt sich auf ein Netzwerk von Informanten in Syrien, deren Angaben nicht unmittelbar unabhängig überprüft werden können.

Der IS-Vormarsch im Norden Syriens löste einen regelrechten Exodus aus. Als Folge des Vormarsches der Terrormiliz IS im Norden Syriens sind nach UN-Angaben inzwischen fast 100 000 Menschen in die Türkei geflohen. „Die Zahl liegt nahe an 100 000“, sagte UNHCR-Sprecherin Selin Unal in Ankara am Sonntag auf Anfrage. „Und weiterhin kommen Menschen.“ Das UN-Flüchtlingshilfswerk hatte am Samstagabend mitgeteilt, die Türkei und die Vereinten Nationen bereiteten sich auf einen möglichen Ansturm von Hunderttausenden Flüchtlingen vor.

Das UNHCR kündigte eine Aufstockung seiner Hilfen für die zahlreichen Flüchtlinge in der Türkei an. Dort haben seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs fast 1,5 Millionen Menschen Zuflucht gesucht. Die türkische Regierung hatte am Samstag mitgeteilt, dass rund 45.000 Schutzsuchende über acht verschiedene Grenzübergänge ins Land gekommen seien.

Ankara hatte sich zunächst geweigert, die syrischen Kurden ins Land zu lassen. Die Türkei sieht sich angesichts der Flüchtlingsmassen im Land überfordert, nach der Grenzöffnung am Freitag sprach die Regierung daher von einer "Ausnahme". Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor dreieinhalb Jahren flohen insgesamt fast 1,5 Millionen Menschen in die Türkei.

Mit der Offensive will der IS seine Macht in der Grenzegion ausbauen, wo die syrischen Kurden in den vergangenen Jahren eine inoffizielle Autonomiezone aufgebaut haben. In der Türkei rief die PKK ihr Anhänger auf, über die Grenze nach Syrien zu gehen und gegen den IS zu kämpfen. Mehrere hundert bewaffnete Rebellen sollen bereits in Kobane angekommen sein. Die Stadt liegt unmittelbar an der türkischen Grenze; der IS soll nur noch 15 Kilometer von Kobane entfernt sein.

Am Sonntag brachen auf der türkischen Seite der Grenze heftige Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und Kurden aus, die über die Grenze nach Syrien wollten. Dabei wurden Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Die Kurdenpolitikerin Tugluk warf der Regierung in Ankara vor, Hilfe für die syrischen Kurden blockieren zu wollen. Tugluks Kollegin Ayla Akat Ata zitierte Berichte, wonach Waffen für den IS aus der Türkei in Zügen nach Syrien geschafft worden seien.

Türkei wird immer stärker in den Konflikt hineingezogen

Nach der Freilassung der türkischen Geiseln aus der Gewalt der IS wird das Nato-Land Türkei immer stärker in den Konflikt mit den Extremisten hineingezogen. Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach von einem „Erfolg der Diplomatie“ – demnach hat der türkische Geheimdienst MIT die Freilassung der Geiseln mit dem IS ausgehandelt. Die 46 türkischen und drei irakischen Geiseln, die im Juni bei der Erstürmung des türkischen Generalkonsulats im nordirakischen Mossul durch den IS in die Gewalt der Extremisten gerieten, kehrten am Samstag in die Türkei zurück. Präsident Recep Tayyip Erdogan und die regierungsnahe Presse sprachen von einer Befreiungsaktion, die laut einigen Meldung in Hollywood-Manier ablief: So berichtete das Erdogan-treue Blatt „Takvim“, der türkische Geheimdienst MIT habe den IS hereingelegt. Die IS-Geiselnehmer hätten die Gefangenen türkischen Agenten in IS-Uniformen übergeben und geglaubt, die Geiseln sollten lediglich an einen anderen Ort verlegt werden.

Syrische Kurden haben sich über die Grenze in die Türkei gerettet.
Syrische Kurden haben sich über die Grenze in die Türkei gerettet.

© AFP

Dagegen war bei regierungskritischen Kommentatoren und beim IS selbst von einer freiwilligen Übergabe der Geiseln an die Türken die Rede. Die kurdische Parlamentsabgeordnete Aysel Tugluk sagte dem Fernsehsender IMC, die Regierung in Ankara habe sich mit dem IS in Verhandlungen geeinigt. Laut IS sagte die Türkei dabei zu, sich nicht an den geplanten westlichen Militärschlägen gegen die Dschihadisten in Syrien zu beteiligen.

Erdogan schließt aktivere Beteiligung am Kampf gegen IS nicht mehr aus

Der Türkei-Experte Ziya Meral sagte dem Sender "Al Dschasira", das Zögern Ankaras liege vor allem daran, dass die USA bisher keine überzeugende Strategie dafür vorgelegt hätten, wie die Zukunft Syriens und des Iraks nach einem militärischen Sieg über den IS aussehen sollte. Erdogan selbst schließt eine aktivere Beteiligung seines Landes aber nicht mehr ausdrücklich aus. Bei einem Treffen mit den freigelassenen Geiseln sagte er am Sonntag, die Türkei habe entsprechende Anfragen der Verbündeten aus Rücksicht auf das Leben der Gefangenen bisher „nicht sofort“ mit Ja beantworten wollen. Ob sich das jetzt ändern wird, sagte er nicht.

Erdogan und andere Mitglieder der türkischen Führung weisen den Vorwurf einer Unterstützung für den IS strikt zurück. Die Lage an der Grenze bei Kobane dürfte den Verdacht einer heimlichen Zusammenarbeit jedoch neu anfachen. Kurdenpolitikern zufolge ist es Ankara nur recht, wenn der IS die kurdische Autonomie auf der syrischen Seite der Grenze zerschlägt. Diese Strategie werde aber nicht aufgehen, warnte die Abgeordnete Tugluk: „Wer heute den IS unterstützt, der kann schon morgen vom IS angegriffen werden. (mit AFP)

Zur Startseite