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Ein Mann in Slowjansk in der Ost-Ukraine blickt nach einem Bombardement aus seinem Haus, um den Schaden zu begutachten.

© Reuters

Krise in der Ukraine: Sehnsucht nach Normalität

Im Osten der Ukraine leben die Menschen seit Wochen mit dem Bürgerkrieg. Zehntausende sind bereits auf der Flucht. Doch viele harren auch aus, um ihren Besitz zu schützen.

„Mein Vater und ich halten Wache, meine Mutter und Großmutter sind bei Verwandten in Dnipropetrowsk“, sagt Dmitri Makarenko aus Donezk. Die Familie bewohnt eine renovierte Wohnung in der Artemastraße im Stadtzentrum. In der Stadt kam es in den vergangenen Wochen immer wieder zu Schießereien. Dmitri arbeitet an der Technischen Universität, dort sind derzeit Semesterferien. Sein Vater und die Mutter sind von ihren Arbeitgebern, beides große Energiebetriebe der Region, beurlaubt worden.

„Das Schlimmste wäre, wenn einer aus der Familie zu Schaden kommt oder unsere Wohnung besetzt oder geplündert wird“, sagt Dmitri. Deshalb harren der 27-Jährige und sein Vater aus.

Leben im Ausnahmezustand

Die Wasser- und Stromversorgung in Donezk fällt regelmäßig stundenweise aus, und es gibt auch nicht jeden Tag alle Lebensmittel im Supermarkt, „doch es ist auszuhalten“, findet Dmitri. Früher sei er abends oft in der Stadt unterwegs gewesen, um Freunde zu besuchen. „Das geht derzeit nicht, weil Banden durch die Straßen ziehen und geschossen wird“, sagt der Doktorand.

Es sei schon ein seltsames Gefühl, wenn im Radio Durchsagen der Stadt kämen, in denen die Bewohner aufgerufen würden, in den Wohnungen zu bleiben und nicht an Fenster oder auf Balkone zu treten. „Wir leben hier im Krieg“, sagt Dimitri. Im Winter hatte er sich an den pro-europäischen Protesten beteiligt. Unweit seiner Wohnung liegt das besetzte Gebäude der Regionalverwaltung, auch der Flughafen ist nicht weit entfernt.

Mit acht Kindern im Keller

Deutlich schlechter als Dimitri und seinem Vater geht es den Menschen in den Städten Kramatorsk und Slowjansk, wo sich Separatisten und Soldaten der ukrainischen Armee erbitterte Kämpfe liefern. Die größte Tageszeitung der Ukraine, „Segodna“, hat Reporter in die Gegend geschickt. Sie berichten von Familien, die seit Wochen in Kellern leben. Auch in den umliegenden Dörfern von Slowjansk vegetieren die Leute vor sich hin.

Eine Mutter mit ihren acht Kindern, die in Ianivka, zehn Kilometer von Slowjansk entfernt, lebt, berichtet, dass die größeren Kinder mittlerweile gelernt hätten „im Sitzen zu schlafen“. Die Großfamilie hat sich in zwei winzigen Kellerräumen eingerichtet. Ihre Wohnung in einem Mehrfamilienhaus sei unbewohnbar, weil bei einem Angriff alle Fensterscheiben kaputtgegangen seien und Wasserleitungen beschädigt wurden. „Seit fast einer Woche wird im Dorf Tag und Nacht geschossen“, berichtet Mutter Larissa der „Segodna“.

Die Versorgungslage in den Dörfern und in Slowjansk ist schlecht. Die Menschen leben von dem, was die Gärten und Felder derzeit hergeben, einige haben Konserven und Eingemachtes. Vor allem alleinstehende alte Menschen seien in Gefahr, schreibt die Zeitung, oftmals würden sie in ihren Häuschen überfallen und schutzlos zurückgelassen. Den Angaben zufolge gibt es unter ihnen bereits Todesopfer, weil auch die medizinische Versorgung in den Gegenden komplett zusammengebrochen ist. „Insulin gibt es seit Anfang Mai nicht mehr“, schreibt „Sogodna“.

Immer mehr sind auf der Flucht

Die meisten Bewohner hätten Slowjansk und Kramatorsk deshalb bereits verlassen. Insgesamt sind in der Ukraine mehr als 50 000 Menschen auf der Flucht, schätzen die UN. Alexander ist einer von jenen, die ausharren. Er lebt ohne Strom, Wasser und Gas. Dennoch will er sein Haus nicht verlassen. „Sobald ich gehe, kommen die Banditen, nehmen alles mit, was sie tragen können, und zünden den Rest an“, sagt er. Seine Verwandten sind bei Freunden in anderen Städten untergekommen.

In einigen Läden gebe es noch Waren, vor ein paar Tagen habe eine Hilfsorganisation Verpflegung gebracht, berichtet er. Er habe Angst, dass die Stadt weiter bombardiert werde und „am Ende alles zerstört ist“. Jeden Abend bevor er ins Bett gehe denke er:„hoffentlich trifft mich im Schlaf kein Projektil“.

Manche arbeiten auch ohne Geld

Aus Kramatorsk wird von einer Familie berichtet, die mit drei Kindern fliehen konnte. Doch die Flucht war offenbar nicht einfach: Züge fahren nicht, ein Auto hatte die Familie nicht zur Verfügung. Vater Nikolai schaffte es den Angaben zufolge, über die Armee einen Bus zu finden, der erst seine Frau und die Kinder und bei einer weiteren Tour auch ihn selbst aus der Stadt brachte. „Wir leben derzeit bei den Eltern meiner Frau in Charkiw von unseren Ersparnissen“. Sein Chef habe ihn zwar gebeten, zur Arbeit zu gehen, doch die Löhne seien im April das letzte Mal gezahlt worden.

In Lugansk gehen viele Berufstätige zur Arbeit, obwohl sie nicht mehr bezahlt werden. Die Betriebe wollen eine Art Normalität aufrechterhalten, die es aber längst nicht mehr gibt. Den dortigen Separatisten wird eine enge Zusammenarbeit mit Russland vorgeworfen. Medienberichten zufolge haben sich in einzelnen Ortschaften ganze Gruppen ausländischer Soldaten in Wäldern oder an Fernstraßen eingegraben und beschießen jeden, der sich ihren Stellungen nähert. Ukrainischen Schätzungen zufolge sind im Donbass 25 000 Kämpfer unter Waffen.

Alexander aus Slowjansk sagt in einem Interview, es sei ihm mittlerweile egal, unter welcher Herrschaft er lebe, ob unter Russen, Ukrainern oder in der Volksrepublik Donezk. „Die Hauptsache ist, wir bekommen unser altes Leben zurück, können zur Arbeit gehen, Geld verdienen und haben Frieden.“

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