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Serie Bundestagswahlen: 1969: Der Machtwechsel

1969 öffnet sich die FDP nach links, Willy Brandt wird Kanzler einer sozialliberalen Koalition. Und beginnt eine gesellschaftspolitische Großreform.

Die Bundestagswahl vom 28. September 1969 war ein Epochenschnitt. Dabei war es ein paradoxer Wahlabend. Die Wahlsiegerin musste am Ende, spät in der Nacht, erkennen, dass sie die große Verliererin war: Die Union lag zwar vorn, aber SPD und FDP hatten zusammen eine Mehrheit und bildeten die sozialliberale Koalition, die bis 1982 regieren sollte. CDU und CSU waren nach 20 Jahren an der Macht abgewählt. Kanzler Kurt-Georg Kiesinger, in der Großen Koalition zunehmend im Schatten von Außenminister Willy Brandt, konnte seine Union mit 46,1 Prozent zwar wieder vor der SPD platzieren, aber es reichte nicht.

Brandt hievte die Sozialdemokraten auf 42,7 Prozent, ein weiterer historischer Rekord für die Partei. Die FDP kam mit Ach und Krach auf 5,8 Prozent. Der Seitenwechsel, für den vor allem der Parteichef Walter Scheel stand, der aber in der Partei und vor allem in der Anhängerschaft umstritten war, erwies sich als riskantes Unterfangen (obwohl in Nordrhein-Westfalen schon seit 1966 eine sozialliberale Koalition regierte). Koalitionspolitische Richtungswechsel waren für die FDP schon immer eine Frage von Leben oder Tod.

 Die FDP öffnet sich nach links

Aber auch in der SPD gab es noch Bedenken, der neue Fraktionschef Herbert Wehner etwa hätte eine Neuauflage der Großen Koalition vorgezogen. Ihm war die Mehrheit von zwölf Sitzen vor der Union zu knapp. Doch Brandt setzte sich durch. Scheels Strategie, die FDP nach links zu öffnen (getragen von Intellektuellen wie Ralf Dahrendorf) und damit neue und jüngere Wählerschichten anzusprechen, hat den Freien Demokraten, die eigentlich jetzt erst als wirklich liberale Partei auftraten, wohl das Leben gerettet – das nationalistisch-kleinbürgerliche Milieu, das einen Großteil der alten Wählerschaft ausgemacht hatte, war keine Zukunftsbasis.

 Gefährlicher Schwung

Brandt wollte seinen Wahlerfolg nutzen, um ein ehrgeiziges Reformprogramm anzuschieben, das weitaus mehr umfassen sollte als der Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verhieß. Deutschland sollte moderner werden, in jeder Hinsicht, weshalb fast kein Politikfeld ausgenommen war. Viel Schwung, hieß das, was natürlich auch bedeutete, dass die Wahrscheinlichkeit, übers Ziel hinaus zu schießen und sich Misserfolge einzuhandeln, groß war. Brandt schlug den Weg zur großen Gesellschaftsreform aber nicht nur ein, um Wähler zu beeindrucken, sondern auch seine SPD.

Die hatte an den Kompromissen in der Großen Koalition öfter zu leiden gehabt – etwa bei der Notstandsgesetzgebung. Vor allem der linke Flügel murrte. Der Wahlsieg von 1969 sollte ein Aufbruchsignal für eine neue Politik sein, die SPD sollte als linke Volkspartei künftig auf Augenhöhe mit CDU und CSU agieren, sie sollte auch etwas Visionäres haben. Brandt (der ja noch die Spaltung der Linken zu Weimarer Zeiten erlebt hatte) wollte die SPD zur Bewegungspartei machen, als Sammelplattform für alles, was sich links der Mitte tat, nicht zuletzt auch für die Jungen, die Studentenbewegung.

Und für die Frauen, die damals auch in Bewegung kamen (etwa für die von der sozialliberalen Koalition angestrebte Reform des Abtreibungsparagraphen 218) – auch wenn 1972 ein SPD-Werbeslogan noch lautete: „Wir haben die richtigen Männer“. Das Gesicht dieses Vorhabens war vor allem Brandt, weniger Wirtschaftsminister Karl Schiller, Verteidigungsminister Helmut Schmidt oder der Skeptiker Wehner. Die hatten früh Bedenken gegen Brandts Politikansatz, zumal ihnen das Pathos des Kanzlers abging.

 Traumatisierte Union

Auf der anderen Seite reagierte die Union auf die Wahlniederlage (die aus ihrer Sicht gar keine war; die FDP galt als Verräterin) trotzig, ja traumatisiert. In den ersten Jahren glaubte sie, mit einem Rechtsschwenk und deutlicher Konfrontation zur Regierung Brandt gewinnen zu können. Aber sie war aus dem Tritt geraten, gerierte sich als Fundamentalopposition, die auf Rache und Rollback sann. Es war ein schwieriger Übergang für die Konservativen, auch weil ein richtiger Einbruch nie stattfand – CDU und CSU blieben in den polarisierten Wahlen der frühen 70er Jahre eine starke Partei, was die Beharrungskräfte in der Partei zu bestätigen schien.

Rainer Barzel als Fraktions- und seit 1971 auch als Parteichef hatte es in dieser Situation mehr als schwer, zwischen den Flügeln zu vermitteln. Barzel hatte für eine pragmatische Oppositionspolitik zu wenig Rückhalt, und schon gar nicht für eine gesellschaftspolitische Neuorientierung der Partei (das gelang, in Grenzen, erst Helmut Kohl). Und die knappe Mehrheit von Rot-Gelb brachte es mit sich, dass die Union stets auf ein Auseinanderbrechen der Regierung spekulierte, was eine künstliche Geschlossenheit erzwang. CDU und CSU nutzten die ersten Oppositionsjahre daher nicht zur innerparteilichen Regeneration.

Brandt konnte zunächst davon profitieren, sein angesichts der knappen Mehrheit doch sehr gewagtes Reformprogramm (die Neue Ostpolitik nicht zu vergessen, die die nationalen Kräfte furios werden ließ) hatte zunächst keinen wirklich ernsthaften Gegner, weil die zwischen Selbstzweifeln und Machtanspruch hin und her gerissene Union nicht wusste, wo sie stehen sollte.

Die weiteren Teile der Serie zu den Bundestagswahlen lesen sie hier.

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