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Kanzlerin Angela Merkel: Wenn ein Mensch lebt

Erst war sie nur Kanzlerin. Im Wahlkampf versucht sie nun eine andere Seite von sich zu zeigen: Angela Merkel ist auch eine Frau – mit Vergangenheit.

Von Antje Sirleschtov

Ganz schön frech! In einigen Monaten wählt Deutschland eine neue Regierung und der amtierenden Bundeskanzlerin wird jetzt vorgeworfen, sie habe als jugendliche FDJ-Funktionärin der DDR offen für den Sozialismus agitiert. So jemand kann natürlich nicht Kanzlerin der CDU im vereinten Deutschland sein. Wenn der ungeheuerliche Vorwurf also stimmt, wäre die Amtsinhaberin weg vom Fenster, zumindest schwer demontiert. Und wenn er nicht stimmt, dann sollte sie ihn umgehend hart dementieren.

Aber was macht die Beschuldigte? Angela Merkel denkt überhaupt nicht daran, sich zu rechtfertigen. Sie steht Sonntagabend locker an ein Tischchen gelehnt in einem Charlottenburger Kino, zuckt mit den Achseln und tut so, als tropfe der Vorwurf einfach an ihr ab. Ein bisschen dehnt sie den Hals und sagt dann, soweit sie sich an diese Zeit in den Achtzigern erinnere, sei sie nicht FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda, sondern für Kultur gewesen. Und „wenn sich jetzt was anderes ergibt“, fügt Merkel dann noch lapidar hinzu, „dann kann man damit auch leben“.

Merkel ist jetzt mehr auf Theaterbühnen als im Politzirkus zu erleben

Man könnte diesen Sonntagabend im Kino „Filmkunst 66“ in der Berliner Bleibtreustraße auch als so etwas wie einen Schlussstein des vorsommerlichen Frühwahlkampfes der Angela Merkel bezeichnen – unter dem Motto „Mensch Merkel“, gewissermaßen. Man weiß nun, dass diese Kanzlerin nicht nur eisenhart verhandeln, den Euro verteidigen und Regierungserklärungen halten kann. Man kennt jetzt auch Fotos von Merkel, der Oma, wie sie fürsorglich mit den Enkeln in den Osterurlaub fährt. Und man kennt Merkel, die Frau, die Männeraugen unwiderstehlich findet und bei einem „Brigitte“-Talk in einem Berliner Theater verrät, warum sie ihre Finger immer so komisch vor dem Bauch spreizt. Ach ja, und wie ein Kamel vorschlafen, das kann sie auch. Damit sie die langen und harten Brüsseler Verhandlungsnächte übersteht. Auch eine der vielen kleinen Erkenntnisse über die Frau, die jetzt zum dritten Mal ins Kanzleramt gewählt werden will und seit ein paar Wochen irgendwie mehr auf Theater- als auf politischen Bühnen zu sehen ist.

Fehlt eigentlich nur noch Merkel, die Ostdeutsche. Ein Bild zur Abrundung der Wahlkämpferin. Für die einen, die Westdeutschen – damit sie sich nicht sorgen müssen, womöglich doch von einer geheimen Agentin des KGB regiert zu werden. Und für die im Osten natürlich auch. Damit die Verbundenheit aus gemeinsamer Geschichte erneuert wird. Das mit dem Buch zweier Journalisten über Merkels Jugend („Das erste Leben der Angela M.“) und den unschönen, aber bei genauerer Betrachtung nicht besonders überzeugend belegten Vorwürfen, ist Merkel irgendwie dazwischen gerutscht, natürlich war es nicht geplant.

Und doch scheint es beinahe perfekt in ihre Strategie zu passen. Denn die Kanzlerin aus Templin hatte ohnehin vor, ihre ostdeutsche Vergangenheit in diesem Sommer stärker zu betonen. Bisher war sie da zurückhaltend, wollte Kanzlerin aller Deutschen und nicht nur der einen Seite sein. Nun ging sie auf ein Angebot der „Deutschen Filmakademie“ ein, an diesem Sonntag ihren Lieblingsfilm im Kino zu sehen und danach zu diskutieren.

Wiedervereinigt, sagt sie, hätten sich Menschen und keine Systeme

Ausgerechnet „Die Legende von Paul und Paula“ wählte Merkel dafür aus. Dieses Kult-Dokument eines Lebens in der DDR der siebziger Jahre, das nur aus Liebe und Leidenschaft besteht und eigentlich beinahe ganz ohne DDR auskommt. Angelica Domröse und Winfried Glatzeder, die Hauptdarsteller, waren eigens angereist und Merkel ließ hinterher ein ausgesuchtes Kinopublikum wissen, dass sie den Film vorher nur einmal „vor vierzig Jahren“ und auch nicht allein gesehen, dabei aber „nicht geknutscht“ habe. Doch das nur ganz am Rand.

Die Kanzlerin erzählt Alltagsgeschichten aus der DDR

Die Botschaft, die Merkel mit diesem Film einer leidenschaftlichen Liebe zweier junger Ost-Berliner senden wollte, war die einer Sehnsucht nach großer Versöhnung. „Was das Leben wirklich ausmacht“, das habe sie an diesem Film fasziniert, sagt die Kanzlerin. „Gefühle, die man in der DDR hatte, genauso wie im Westen, ganz ohne System.“ Merkel, wie sie beiden Seiten des vereinten Landes die Hände reicht: Denen, die im Westen verstehen mögen, was das Leben auf der anderen Seite der Mauer wirklich ausgemacht hat und den anderen, die wie sie aus einer DDR kamen, in der es nicht nur politische Opfer und Stasi-Täter gab, sondern Menschen, die ihr ganz normales Leben gelebt haben. Die, wie sie selbst, Beatles hörten, Jungs mit langen Haaren kannten und denen „die Kohlen zum Heizen einfach so vor die Tür gekippt“ wurden.

„Mein Leben in der DDR war in der Summe nicht umsonst“, sagt Merkel und berichtet an diesem Abend ausufernd, wie sie als Schülerin in Templin Jeans von ihren Tanten aus dem Westen geschickt bekam, aber nicht die so sehr ersehnte gelbe Bluse („Gelbe Blusen waren in dem Jahr im Westen nicht modern“). Und wie sie in einer Bruchbude in Berlin Prenzlauer Berg (Schönhauser Allee, Hinterhof) gehaust hat und ihr Vater an ihrem 30. Geburtstag mäkelte: „Weit hast Du’s ja noch nicht gebracht.“ Einen Kaffee hat er trotzdem bekommen, „türkisch“, was so viel heißt wie „ohne Filter aufgegossen“ und ein ostdeutscher Inbegriff von lockerer Gemütlichkeit war.

Merkel schrieb Arbeiten über Marxismus-Leninismus

Fast eine Stunde lang hat Merkel all diese kleinen Alltagsgeschichten aus ihrem Ost-Leben erzählt. Bardame war sie in der Disko, mit Blaupapier konnte sie nicht umgehen und an ihren Wänden hingen Poster von Chris Doerk und Frank Schöbel genauso wie von den Stones. Ein Plädoyer für das Verstehen und Vergeben für alle, die irgendwie mitgemacht haben, in der FDJ, bei den Jungpionieren, in der DDR-Gewerkschaft FDGB und der „Deutsch-Sowjetischen Gesellschaft“. Ein Plädoyer wohl auch für sie selbst. Denn wiedervereinigt, sagt Merkel, hätten sich schließlich 1990 „Menschen und keine Systeme“. Weil diese Menschen „ihre Biografien nicht einfach tilgen können, muss man sie mit ihren Biografien annehmen“. Und dann: „Auch ich war in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft.“

Als sei nichts dabei, Mitglied dieser antidemokratischen Vereinigung gewesen zu sein, in der praktisch fast alle erwachsenen DDR-Bürger waren. Angela Merkel jedenfalls findet an diesem Sonntagabend nichts Verwerfliches mehr daran und scherzt sogar über ihre Arbeiten über „M-L“ (Marxismus-Leninismus), die sie gleich mehrfach während ihres Studiums habe schreiben müssen.

Es gab Leute an diesem Sonntagabend im Kino, die fanden Merkels späte Sicht auf die Dinge überzeugend, es wurde viel applaudiert. Aber es gab auch welche, die meinten, es sei gefährlich, das Mitmachen der „einfachen Leute" zu verharmlosen. Ob es nun arglos, aus Angst oder Karrieregründen geschah.

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