zum Hauptinhalt

Tötung bin Ladens: Was für ein Bild

Das Foto ging um die ganze Welt. Es wirft Fragen auf. Seriöse und unseriöse. Der gewaltsame Tod Osama bin Ladens wird zum Fest für Verschwörungstheoretiker

Das Foto des toten Osama bin Laden will die US-Regierung bekanntlich nicht veröffentlichen. Ein anderes Bild geht hingegen seit Tagen um die Welt: Es zeigt Präsident Barack Obama und seine Sicherheitsberater im „Situation Room“ im Weißen Haus, wo sie den Schlag gegen den Al-Qaida-Chef aktuell mitverfolgen. Das Bild wirft einige Fragen auf und liefert Stoff für die wildesten Spekulationen. Immer mehr Geschichten werden nach und nach zu dem Bild erzählt, seriöse und unseriöse.

Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung – und nicht nur der amerikanischen – labt sich an Verschwörungs-Theorien. Für sie wurde die Mondlandung in Hollywood gedreht, landeten Außerirdische in Nevada, wusste George W. Bush schon vorab von den Anschlägen vom 11. September, wurde John F. Kennedy von der Mafia erschossen, Barack Obama in Kenia geboren … und für sie lebt Osama bin Laden noch – vermutlich liegt er gerade mit Elvis an einem Südseestrand, Cocktail in der Hand.

Kritiker von allen Seiten fordern die Herausgabe des Bildes, das ein Navy Seal unmittelbar nach dem tödlichen Schuss auf den Terrorfürsten zur Beweisaufnahme gemacht hat. Doch Washington handelt besonnen. Man weiß, dass das Foto wohl Hass und Rachelust extremistischer Gruppen anstacheln könnte, und dass es die Verschwörungstheoretiker nicht ruhigstellen würde. Die würden das Foto ohnehin für nachgestellt halten. Der TV-Komiker Jon Stewart witzelte: Für ein absolutes Beweisfoto hätte man Osama mindestens in ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin Osama – wirklich“ stecken müssen. Während man nun vergeblich auf die Herausgabe des Osama-Fotos wartet, üben sich die Experten an wilden Theorien über den „Situation Room“. Welche Fotos liegen da auf dem Tisch? Was zeigen sie und warum sind sie unkenntlich gemacht? Warum hält sich Außenministerin Hillary Clinton entsetzt die Hand vor den Mund? Ist sie der einzige Mensch in dem Raum, der Gefühle zeigen kann? Und wer ist die unbekannte mysteriöse junge Dame im Hintergrund?

Fragen über Fragen, die meisten sind bereits aufgeklärt – ganz unspektakulär. Die unkenntlich gemachten Fotos auf dem Tisch zeigen Satellitenaufnahmen von Osamas Villa. Sie stammen von der National Geospatial Intelligence Agency, die Amerikas Aufklärungssatelliten betreut. Selbst für den auffälligen Farbkontrast gibt es einen Grund: Es handelt sich um sogenannte SAR-Aufnahmen, die mit Hilfe von Mikrowellen aus dem Weltall geschossen werden. Sie verwenden eine synthetische Blende, die den Kontrast verzerrt.

Auch die Hand vor Hillary Clintons Mund hat nichts mit der Fassungslosigkeit der ansonsten durchaus abgebrühten Außenministerin zu tun, sondern mit einer simplen Allergie. Jeden Frühling plage sie ein Husten, stellte Clinton am Mittwoch während einer Pressekonferenz klar, wohlgemerkt ohne die Stimmung im „Situation Room“ herunterzuspielen: „Es waren 38 sehr angespannte Minuten“, sagte Clinton.

Weniger angespannt wirkt eine junge Frau im Hintergrund des Bildes, die vom Weißen Haus als Audrey Tomason identifiziert wird. Sie ist die einzige Person im „Situation Room“, die so gut wie unbekannt ist, und Blogger haben sie jetzt unter die Lupe genommen. Verschiedenen Quellen zufolge arbeitet die 34-Jährige als Terror-Abwehr-Direktorin für die CIA. Möglicherweise undercover, wie manche spekulieren. Dann wäre dieses Foto eine echte Panne, die Frau wäre öffentlich enttarnt. Die Schmallippigkeit des Weißen Hauses zu diesem Fall lässt Spekulationen ins Kraut schießen. Einen ganz anderen Lapsus unterstellt ein Blogger bei Ricochet.com. Möglicherweise sei Tomason in Wirklichkeit eine Highschool-Schülerin, die bei einer Führung durch das Weiße Haus falsch abgebogen sei. Zumindest das lässt sich widerlegen: Der West Wing samt „Situation Room“ war während des Angriffs auf bin Ladens Festung für Besucher komplett gesperrt. Wenn sich Tomason schon nicht festnageln lässt, dann kommt ihr bei manchen Beobachtern wenigstens eine soziologisch bedeutende Rolle zu. Immerhin sei sie mit Hillary Clinton eine von zwei Frauen in einem „testosterongeladenen Umfeld“, schreibt Saladin Ambar, Politikwissenschaftler an der Lehigh University in Pennsylvania. In vergleichbaren Fotos aus der Schaltzentrale der Macht, etwa am D-Day in der Normandie oder auf dem Höhepunkt der Kubakrise, seien nie Frauen im Bilde gewesen.

Schwarze übrigens auch nicht. Cheryl Conte von dem auf Politik aus afroamerikanischer Sicht spezialisierten Blog Jack & Jill glaubt, dass sich mit dem Foto aus dem „Situation Room“ das Ansehen der Schwarzen in Amerika schlagartig geändert habe. Hätten diese sonst das Klischee des Täters inne, sei Barack Obama nun der Beschützer der Nation.

All das und noch vieles mehr lässt sich aus einem einzigen Foto lesen, wie ein Blick in Amerikas Medien offenbart. Wie relevant jede einzelne Information ist, ist oft ziemlich unklar. Zwar kommen im Zusammenhang mit dem „Situation Room“ Experten mit fundierten Meinungen zum Zuge. Doch ist das nicht immer so. Auch die wildesten Verschwörungstheoretiker haben in den Massenmedien Hochkonjunktur und bezweifeln offen, dass Osama bin Laden tot ist. Ernst zu nehmen sind solche Stimmen nicht, doch in einem nachrichtenhungrigen Umfeld mit 24-Stunden-Programm kommen sie verstärkt vor. Das zeigte sich auch im Dauerstreit um Barack Obamas Geburtsurkunde. Vor dem egomanischen Immobilien-Tycoon Donald Trump war eine Frau namens Orly Taitz selbst ernannte Chef-Anklägerin in der Causa Obama. Die aus Moldawien stammende „Zahnärztin, Rechtsanwältin und Immobilienmaklerin“ war keine Sekunde lang glaubwürdig, schaffte es aber immer wieder in die Abendnachrichten.

Das Foto aus dem „Situation Room“ regte auch die Fantasie in Europa an. Was der hochseriösen „Neuen Zürcher Zeitung“ auffiel, war die Tatsache, dass Obama in dieser wichtigen Situation – „während deren Osama bin Laden gezielt liquidiert wurde“ – keine Krawatte trägt. Einen ganzen langen Artikel widmete die Zeitung diesem einen Aspekt des Bildes und schrieb: „Zweifellos ein historisches Bild, und zwar auch in Sachen Kostümkunde, denn es dokumentiert eindrücklich, dass die Krawatte, die einst ein universelles (westliches) Symbol für männliche Macht und geschäftige Seriosität war, heute nicht einmal mehr im Weißen Haus eine verbindliche Rolle hat.“

Das Ende, wer wagt daran noch zu zweifeln, ist nah.

Zur Startseite