zum Hauptinhalt

Architekt Christoph Ingenhoven: „Wir sind am Ende der Kuschelwelle“

Verteidigung der Moderne: Der Architekt Christoph Ingenhoven streitet für seinen Bahnhofsentwurf Stuttgart 21. Er spricht im Tagesspiegel über politische Instrumentalisierung und demokratische Planungsverfahren.

Herr Ingenhoven, gerade ist der Streit um Stuttgart 21 noch einmal eskaliert. Wie viel Ärger verträgt ein Architekt?

Ich muss nicht immer Harmonie haben. Doch in Stuttgart ist inzwischen eine sehr aufgeheizte Situation entstanden. Da wird gedroht, da werden Briefe geschrieben – im Büro erreichen uns täglich anonyme Mails, und das ist noch harmlos. Andere bekommen Morddrohungen. Da suchen sich Menschen ein Ventil, die an der eigentlichen Sache gar nicht interessiert sind. Der Streit wird auch politisch instrumentalisiert.

David Chipperfield hat in Berlin ähnliche Erfahrungen gemacht, beim Neuen Museum, und er hat gesagt, dass ihn die Leidenschaft, mit der in Deutschland über Architektur gestritten wird, sehr beeindruckt. Nehmen Sie die Argumente Ihrer Gegner nicht zu wenig ernst?

Ich bin ein großer Fan von öffentlichen Diskussionen über Architektur. In der Demokratie zu bauen mag vielleicht mühsam sein, aber die Fehlerquote ist am Ende wahrscheinlich kleiner. Bei Stuttgart 21 ist jahrelang diskutiert worden. Es hat ein Planfeststellungsverfahren gegeben, es hat 11 500 Eingaben gegeben und unendliche Hearings. Demokratischer als bei diesem Verfahren kann man nicht arbeiten. Es liegt am Ende nicht an mangelnder Sorgfalt, sondern an unterschiedlichen Meinungen, und denen kommt man mit solchen Prozessen nicht bei.

Sie gelten als Spezialist für ökologisches Bauen. Stört es Sie nicht, dass ausgerechnet die Grünen in Stuttgart Ihre Gegner sind?

Die Grünen nutzen das Thema, um sich politisch zu positionieren. Es gab ja eine große Koalition der Zustimmung: CDU, SPD und FDP sind nach wie vor für das Projekt. Das ist ein gefundenes Fressen für die Grünen. Die Grünen in BadenWürttemberg sind inzwischen eine normale Partei und benehmen sich auch wie eine solche, das heißt: sie agieren taktisch. Da geht es nicht um sachliche Überlegungen, sondern um Wahlchancen ohne Rücksicht auf demokratische Mehrheiten.

Der Protest entzündet sich vor allem am Abriss des Nordflügels des Bonatz-Baus. Wäre es nicht, zur Befriedung aller, möglich gewesen, so weit umzuplanen, dass die Flügel erhalten werden könnten?

Das geht allein aus technischen Gründen nicht: Die Bahn hat in der Ausschreibung für Stuttgart 21 die Trassenlage für die Gleise festgelegt. Ein wichtiger Aspekt dabei war der Schutz der unterirdischen Mineralquellen, der es nicht erlaubt, tiefer in die Erde zu gehen. Das führt dazu, dass man in der Höhe automatisch mit dem Flügel kollidiert.

Das heißt, es liegt an den Gleisvorgaben der Bahn, die mit den Flügeln kollidieren?

Unser Bahnhof versucht, auf dem geringen Platz über den Gleisen einen Raum zu schaffen, der trotzdem unter der Erde bleibt, um die Entlüftung des Tals nicht zu stören und den Schlossgarten abzuschneiden. Um den Überbau schlank zu halten, mussten wir eine besondere Betonkonstruktion wählen. Aber auf diese Konstruktion kann ich nicht noch eine große Last wie den Flügel stellen. Außerdem ist der Bahnhof, wie er heute steht, ein Verkehrsbauwerk. Solche Bauwerke, Flughäfen, Bahnhöfe, sind immer Veränderungen unterworfen gewesen.

Zuletzt wurden auch Zweifel an der technischen Machbarkeit des ganzen Projekts erhoben. Man spricht in der Presse von einer drohenden geologischen Katastrophe.

Wenn man die Presse verfolgt, tauchen plötzlich Experten auf, die erklären, dass acht Gleise schlechter sind als zehn. Ich sage da immer: Leute, wo habt ihr das denn her? Es waren ja Fachleute an der Planung beteiligt. Wir sind ein Land, das den größten Teil seiner Wertschöpfung durch den Export von Industriegütern erzielt. Maschinenbau, Pharmaindustrie, Autos, da sind wir Weltspitze. Wir sind es auch bei Bautechnik, Ingenieurbau und Infrastruktur. Wir bauen die besten Kraftwerke der Welt, die besten Staudämme, die besten Tunnel. Ich finde es respektlos, dass sich Nichtkundige Meinungen erlauben über Ingenieurbau im Tunnelbereich.

Der Abriss ist nicht das einzige Problem. Die Riesenfläche, die durch die Verlegung der Gleise unter die Erde entsteht, zu gestalten, wird für Architekten eine Herausforderung. Wie stellen Sie sicher, dass keine gesichtslose Investorenarchitektur, keine Retortenstadt entsteht?

Das ist das eigentliche Riesenthema, das noch nicht gelöst ist. Über Architekturwettbewerbe könnte man sich zumindest auf ein Material verständigen. Das wäre eine wunderbare Art der Disziplinierung. Und es könnte ökologisch interessant sein festzulegen, dass mit örtlichen Materialien gebaut wird und die Grundkonstruktion aus Recycling-Material besteht. Das ist eine Riesenchance.

Trauen Sie deutschen Architekten das zu?

Mir kommt es immer so vor, als ob Fußball-Weltmeisterschaft ist, der Ball liegt da und muss ins Tor getreten werden, und die Jungs prügeln sich außerhalb des Spielfelds. Man streitet sich heute darum, ob das Spiel überhaupt stattfindet. Aber das Spiel findet längst statt, und man müsste sich darüber streiten, wie man es gewinnt.

Das Berliner Schloss ist gerade auf Eis gelegt, bei der Elbphilharmonie explodieren die Kosten. Auch Stuttgart 21 war geplant als Vorzeigeprojekt des 21. Jahrhunderts. Inzwischen haben wir den 11. September 2001 und weltweite Finanzkrisen hinter uns. Sind solche Großprojekte noch zeitgemäß?

Ich glaube, die Angst vor großen Projekten ist auch Ausdruck einer alternden Gesellschaft, die kein Risiko mehr eingehen will. Es werden ja große Worte benutzt: Montagsdemonstration, „Wir sind die Demokraten. Wir fordern die Bürgerentscheidung“. Während ich sage: Das hat mit höheren Interessen nichts zu tun. Ich habe meine Interessen. Und auch die Kritiker haben ihre Interessen. Aber sie sind nicht demokratischer. Wir hatten ein Verfahren, das verfassungsgemäß ist. Was ist demokratisch, wenn nicht das?

Beidem Streit geht es auch um Historismus gegen Moderne. Warum mobilisiert der alte Bahnhof, den Sie einmal als Ritterburg geschmäht haben, so viele Fans?

Das hängt mit der Befindlichkeit einer Gesellschaft zusammen. In Deutschland – aber auch in Städten wie Den Haag oder Rotterdam – waren die Kriegszerstörungen entsetzlich. Dann hat ein Wiederaufbau stattgefunden, der notgedrungen so rasant war, dass auch Fehler gemacht wurden. Dass da ein Skeptizismus gegenüber der modernen Architektur und der Moderne allgemein entsteht, ist auch ein spezifisch deutsches Problem.

Nicht umsonst lautet das Motto des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig Sehnsucht. Warum gelingt es der Moderne nicht mehr, Sehnsüchte zu befriedigen? Das Bauhaus, das Neue Bauen, hat Menschen als Vision begeistert.

Es gibt heute eine Sehnsucht nach der europäischen Stadt. Damit ist zumeist die Gründerzeit gemeint. Also eine sehr schnelle, kapitalistische Developer-Ära, in der man sich aus dem Katalog Häuser kaufen konnte. Das war wirtschaftlich sehr erfolgreich, aber vielleicht kein gutes Vorbild für heute. Den Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es um eine Demokratisierung des Bauens, um menschenwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen. Die Begeisterung für neue Architektur richtete sich gerade gegen die gründerzeitliche Architektur, gegen die Überdekoration, das spätbürgerliche Gehabe. Bürgerlichkeit definiert sich selbst heute noch für die meisten ja nicht an der Civitas, an der Teilhabe am öffentlichen Leben, sondern ist mit einem diffusen Konservativismus verbunden, wo es um Manschettenknöpfe und dreiteilige Anzüge geht. Da vermisse ich ein Stück Bildung, auch ein Stück Herzensbildung.

Für Berlin hatten Sie einen Park auf dem Schlossplatz vorgeschlagen. Nun sieht es so aus, als ob die Wiese, die dort im Moment steht, wahrscheinlich ziemlich lange bleiben wird. Fühlen Sie sich bestätigt?

Ich habe damals gesagt: Diese Leere ist eine Chance. Auf den Befestigungsanlagen in vielen europäischen Städten sind wunderbare Grünanlagen entstanden, das sind heute beliebte Orte in der Stadt. Warum hat Berlin nicht zum Beispiel den Mauerverlauf in diesem Sinne als Grüngürtel erhalten und erfahrbar machen können? Eine Riesenchance: verpasst.

Die Zeiten der Mobilität sind vorbei. Inzwischen ist Regionalismus angesagt. Muss nicht auch die Architektur auf solche Veränderungen reagieren?

Es gibt Wellen, und ich glaube, wir sind gerade am Ende einer Kuschelwelle. Derzeit herrscht wieder Aufbruchsstimmung, die die Stuttgarter nicht verpassen sollten.

Das Gespräch führte Christina Tilmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false