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In Frankreich wurde am Dienstag landesweit demonstriert – so auch in Marseille.

© Reuters

Kürzungen und Reformen: Europäischer Protest gegen unpopuläres Regierungshandeln

Nicht nur in Frankreich regt sich der Protest gegen unpopuläre politische Entscheidungen – auch in Großbritannien und in Osteuropa muss gespart werden.

Europas Staaten ächzen unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Um die Staatsverschuldung wieder zurückzuführen, sind in den EU-Mitgliedsländern Sparpakete mit zum Teil drastischen Einschnitten geschnürt worden. Die Bevölkerung in den Ländern nimmt die Kürzungen und Reformen zum Teil hin – in Frankreich protestiert sie aber.

FRANKREICH

Szenen wie im Guerillakrieg

Brennende Autos, randalierende Jugendliche und Tankstellen ohne Benzin – in Frankreich sind die Proteste um die Rentenreform eskaliert. Es ist der Herbst der großen Entscheidungen. Von den Franzosen wird die Reform als ungerecht und Einschränkung der sozialen Privilegien empfunden, deshalb streiken sie. Zur Abstimmung dürfte es dennoch noch diese Woche kommen, frühestens am Donnerstag. Das Rentenalter soll von 60 auf 62 Jahre angehoben werden, das Alter, ab dem es Rente ohne Abschlag gibt, von 65 auf 67 Jahre. Wegen der Mehrheitsverhältnisse gilt es als sicher, dass die Reform durchkommt. In Frankreich haben heftige Proteste gegen unpopuläre Reformen Tradition. Am Dienstag haben die Gewerkschaften wieder zum Generalstreik aufgerufen. 3,5 Millionen Menschen gingen auf die Straße. In Lyon brannten Autos, in Nanterre bei Paris kam es zu Jugendkrawallen, die die Angst vor Vorstadtunruhen aufleben lassen. Ein Krisenstab wurde eingesetzt, um die Energieversorgung in den Griff zu bekommen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der sich am Dienstag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Deauville in der Normandie traf, schloss erneut einen Kompromiss aus: „Die Reform ist wichtig. Frankreich steht hinter ihr und wird sie durchziehen – so wie es unsere deutschen Partner auch gemacht haben.“ Nachgeben wollen die Gewerkschaften allerdings auch nicht und haben schon angekündigt, die Proteste auch nach einer Verabschiedung des Gesetzes fortzusetzen: „Solange sich die Regierung nicht bewegt, bewegen wir uns auch nicht.“ Die Streikenden sehen die letzte Chance, deshalb hat sich die Situation erheblich zugespitzt. Beim Schienen- und Flugverkehr gab es am Dienstag bis zu 50 Prozent Ausfall, der unter anderem auch den Flugverkehr in Berlin betraf. 20 Prozent der Tankstellen waren ohne Sprit. Die Angestellten in allen zwölf Raffinerien in Frankreich setzten ihren seit über einer Woche andauernden Streik fort. Doch Innenminister Brice Hortefeux kündigte schon an: „Wir werden die Blockaden von Depots notfalls auflösen lassen.“ Besonders beunruhigt sind die Behörden allerdings über die Jugendkrawalle. „Es sind Szenen wie im Guerillakrieg“, sagte Patrick Strzoda, der Präfekt des Départements Hauts-de-Seine bei Paris, in dem Nanterre liegt. Dort setzte die Polizei Tränengas ein und nahm rund 200 Randalierer fest. Es wird befürchtet, dass es wieder zu Unruhen wie im Herbst 2005 kommen könnte. Tanja Kuchenbecker

GROSSBRITANNIEN

Resignation statt Protest

Auch in Großbritannien zogen Gewerkschafter am Dienstag auf die Straße, um gegen Sparmaßnahmen, Jobverlust und schlechtere Rentenbedingungen zu protestieren. Aber im Vergleich zu Frankreich war es nicht mehr als ein Spaziergang. Von dem „heißen Herbst“, den militante Gewerkschafter ankündigten, war keine Spur. „Wir fürchten um die Zukunft unseres Landes“, warnte Gewerkschaftsboss Brendan Barber, Chef des Gewerkschafts-Dachverbands TUC: Die Einsparungen seien „zu schnell und zu tief“, sie würden die Wirtschaft zum Stillstand bringen und „das Gewebe der Gesellschaft zerreißen, weil sie die Ärmsten und Verwundbarsten am härtesten treffen“. Der neue Oppositionsführer Ed Miliband war bezeichnenderweise bei den Protesten nicht dabei. Vor seiner Wahl zum Chef der Labour-Partei hatte er versprochen, sich an die Spitze des Protestes zu stellen. Inzwischen ist es ihm wichtiger, sich als Mann der Mitte zu präsentieren. Und dort, in der Mitte, können die Sparmaßnahmen und Reformen immer noch auf die Unterstützung einer klaren Mehrheit bauen. Die Briten scheinen eher als die Franzosen begriffen zu haben, dass ohne die nötigen Veränderungen langfristig ihre Zukunft auf dem Spiel steht. „Das Defizit jetzt nicht abzubauen, wäre unverantwortlich gegenüber kommenden Generationen“, warnte Premier David Cameron. An diesem Mittwoch wird Schatzkanzler George Osborne im Unterhaus die dramatischsten Sparmaßnahmen seit Kriegsende verkünden. Er will im Laufe der nächsten vier Jahre ein Strukturdefizit von rund 110 Milliarden Pfund – was die Briten mehr ausgeben, als die Wirtschaft wieder hereinbringt – abtragen. Dafür müssen rund 83 Milliarden Pfund aus dem Haushalt gestrichen werden – pro Jahr etwa fünf bis sechs Prozent. Erst 23 Milliarden Pfund dieser Kürzungen sind mehr oder weniger klar. Dazu zählt die Streichung des Kindergelds für Besserverdiener. Sozialleistungen werden zusammengestrichen, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wird in den nächsten Jahren um 30 Prozent teurer, Steuern werden erhöht, auch die Mehrwertsteuer. Studiengebühren verdoppeln sich auf 7000 Pfund und mehr, das Alter für den Bezug der mageren Staatsrente wird von 65 auf 67 hochgesetzt, Staatsbeamte müssen mehr in ihre Pensionskassen einzahlen und einen zweijährigen Lohnstopp hinnehmen. Der Rückbau der unter der Labour-Partei expandierten Staatsleistungen wird in den nächsten drei bis vier Jahren bis zu 600 000 Jobs kosten. Aber das alles ist nur der Anfang: An diesem Mittwoch erfahren die Briten vom Schatzkanzler, wo die restlichen Milliarden eingespart werden.Matthias Thibaut

UNGARN

Krisensteuer soll es richten

In Ungarn steht die große Sparrunde noch bevor. Ministerpräsident Viktor Orban hatte damit bis nach den Kommunalwahlen von Anfang Oktober gewartet. Seine Rechnung ging auf: Wie bereits im Frühjahr bei den Parlamentswahlen errang seine Fidesz-Partei über zwei Drittel aller Sitze, ein riesiger Vertrauensvorschuss in dem wirtschaftlich schwer angeschlagenen Land, das im vergangenen Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 6,5 Prozent verkraften musste. Nun allerdings ist man gespannt, wie Orban die im Wahlkampf versprochenen Steuersenkungen mit der notwendigen Budgetdisziplin vereinbaren will – zumal er in der Vergangenheit die strenge Haushaltspolitik der sozialistischen Vorgängerregierung kritisiert hatte. Ein am Freitag und Montag in Budapest im Parlament vorgestellter Wirtschaftsförderungsplan sieht neben der Einführung einer Einheitssteuer in der Höhe von 16 Prozent eine umstrittene „Krisensteuer“ für mehrere Großunternehmen vor. Privatbanken, Versicherungen, Einzelhandelsketten, Telekommunikationsunternehmen und Energieversorger sollen bis 2013 umgerechnet 0,6 Milliarden Euro mehr in die Staatskasse abführen. Davon nicht betroffen sind die kleinen und mittleren Unternehmen, die rund 98 Prozent der Firmen in Ungarn stellen. In der öffentlichen Verwaltung sollen zudem Tausende von Stellen eingespart werden, um damit die Verwaltungskosten um fünf Prozent zu senken. Einer indirekten Rentenkürzung kommt das Einfrieren der obligatorischen zweiten Säule für dieses Jahr gleich. Orban sucht mit diesen Maßnahmen, denen das Parlament aller Voraussicht nach zustimmen wird, einen erneuten Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu umgehen. Ungarn schaffe den Weg aus der Krise diesmal alleine, lautet sein selbstbewusstes Credo. Paul Flückiger

LETTLAND

Der Sparkommissar als Held

Trotz einer rigiden Sparpolitik wurde Anfang Oktober in Lettland die von Ministerpräsident Valdis Dombrowskis geführte Mitte-Rechts-Regierung für eine weitere Amtsperiode bestätigt. Im Baltikum wurde das Ergebnis als „sensationell“ kommentiert, Dombrovskis gilt dort als Held. Denn seit März 2009 hatte die Regierung Dombrovskis’ in dem EU-weit am schwersten von der Wirtschaftskrise heimgesuchten Land brutale Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor von bis auf die Hälfte durchgesetzt. Bereits beschlossene Rentenkürzungen waren im Sommer zwar vom Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt worden, nun allerdings dürfte Dombrovskis’ neues Kabinett diese in abgeänderter Form durchpauken. Im Jahr 2014 soll dank dieser Anstrengungen der Euro eingeführt werden können. Bereits zeichnet sich eine leichte Erholung der lettischen Wirtschaft ab, sie steht aber auf wackligen Füßen. So sinkt die Arbeitslosenquote von rund 20 Prozent inzwischen. Dombrovskis will dennoch die Vorgaben der EU und des IWF erfüllen und das Budgetloch von 9,2 Milliarden Euro (44 Prozent des Bruttoinlandprodukts) weiter verringern. Paul Flückiger

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