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Protestiert mit. Louisa Slavkova.

© promo

Politologin im Interview: "Korruption wird in Bulgarien als ganz normal wahrgenommen"

Die Politologin Louisa Slavkova aus Bulgarien spricht im Tagesspiegel über die verkrustete Strukturen im Land, die Protestwelle und die Perspektiven ihrer jungen Landsleute.

Seit 14. Juni wird in Bulgarien jeden Tag protestiert. Auslöser der Proteste war die Ernennung des Medienunternehmers  Deljan Peewski aus der Partei Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) zum Chef des Inlandsgeheimdienstes Dans . Welche Sorgen knüpfen sich an die Ernennung dieses Mannes?

Für mich ist Deljan Peewski eine Verkörperung aller möglichen Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft der letzten 23 Jahre. In seiner Hand konzentrieren sich Fernsehsender, Zeitungen, Vertriebe, aber auch millionenschwere Bauunternehmen. Er soll in unzählige Korruptionsfälle verwickelt sein, von denen keiner vor Gericht gebracht wurde. Stattdessen meinte Ministerpräsident Sergej Stanischew, Peewski sei durch eine „Katharsis“ gegangen. Schon davor gab es einige fragliche Ernennungen, aber das hat innerhalb kürzester Zeit die Menschen auf die Straßen gebracht.

Trotz des jüngsten stärkeren Interesses auch internationaler Medien tut diese Regierung so, als wären die Proteste nicht wichtig, als wären wir zufällige Passanten. Wie kann man einen Protest so unterschätzen, der seit über 40 Tagen jeden Abend zwischen 10.000 und 40.000 Menschen versammelt?

Im Juli kam es bei einer Blockade des Parlaments zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Hat diese Nacht die Protestbewegung verändert?

Nein. Unsere Protestbewegung ist eine Solidaritätsbewegung, sie ist für jeden da. Das zeigt sich auch sehr konkret im Umgang mit der Polizei. Protestierende habe den Polizisten Blumen und Wasser gebracht. In sozialen Medien wurde darüber berichtet, dass praktisch keine Polizeigewerkschaften existieren und die Polizisten wegen Überstunden an ihren Grenzen sind. Die Polizisten stehen im Dialog mit der Bevölkerung. Deswegen werden auch langsam Polizisten aus anderen Städten nach Sofia geholt, weil die Polizisten aus der Stadt ihren eigenen Familien und Freunden gegenüberstehen. Es beteiligen sich auch viele Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Einige von ihnen haben deswegen bereits ihren Job verloren.

Was steckt hinter der Unzufriedenheit?

Das Wort, das man bei den Protesten am meisten hört ist „Oligarchie“. Die Verbindung derjenigen, die Geld haben, zu den Institutionen der Macht. An dem Medienimperium von Peewski ist auch jene Bank beteiligt, in der die meisten Staatsunternehmen ihr Geld anlegen. Dadurch bekommt der Besitzer der Bank, Cvetan Vassilev, eine wichtige Rolle in der Koalitionspartei. Diese Verquickung hat damit zu tun, wie die Transformation in Bulgarien verlaufen ist. Die Gelder der Kommunistischen Partei gingen in den 1990ern in die Hände weniger oder wurden gewaschen. Dies sind die ersten Proteste, bei denen Leute auch „Vergangenheitsbewältigung“ und „Lustration“ auf ihre Plakate schreiben. Hier ist wirklich noch sehr viel unfertig.

Wie wirkt sich die Korruption auf die Bevölkerung aus?

Erst letzte Woche wurde im Parlament ein neues Budget verhandelt. Die Regierung will einen Kredit von einer Milliarde Lew (rund 511 Millionen Euro) aufnehmen, von denen 200.000 bis 400.000 Millionen als Mehrwertsteuerrückzahlung an Unternehmen gehen sollen. Ökonomen sagen, dass dieses Geld wieder als Machtinstrument dient, um bestimmte Unternehmen zu stärken. Korruption wird in Bulgarien mittlerweile schnell als Teil des Lebens wahrgenommen, als sei es etwas ganz Normales.

Das ist es nicht. Ende 2009 waren wir das erste Land innerhalb der EU, dem die EU-Gelder gestoppt wurden. Interessanterweise gibt es in der Bevölkerung sehr wenig Vertrauen in die bulgarischen Institutionen, aber ein hohes Vertrauen in die EU. Die EU wird als Garantie dafür gesehen, unsere Politiker auf die richtige Bahn zu führen. Das zeigt auch wie die bulgarische Zivilgesellschaft tickt: Sie hatte bislang nicht das Gefühl, eingreifen zu können. Eine aktive Zivilgesellschaft, die Kontrolle ausüben kann, ist das neue Element bei diesen Protesten.

Rücktritt? Und was dann?

Auf die Straße. Jeden Tag demonstrieren die Bulgaren.
Auf die Straße. Jeden Tag demonstrieren die Bulgaren.

© Reuters

Bereits im Februar gab es in Bulgarien massive Proteste wegen zu hoher Energiepreise, es kam zu Neuwahlen. Die jetzige Regierung hatte soziale Verbesserungen versprochen. Was wurde daraus?

Am Anfang wollte die Regierung eine Expertenregierung einsetzen, aber in Wahrheit gibt es gar keine Expertenregierung, sondern eine Mischung aus eindeutigen politischen Figuren, einigen wenigen Experten und Personen mit fragwürdiger politische und professioneller Integrität. Die Zivilgesellschaft sollte beteiligt werden, aber in den gegründeten Kommissionen sind nur NGOs vertreten, die der Regierung nahe stehen, andere kommen gar nicht rein. Bei den Protesten sehe ich nun fast den gesamten bulgarischen NGO-Sektor auf der Straße.

Die Regierung nennt sie "Sorosoidi", als kämen sie alle aus den Kreisen des Open Society Institutes des US-amerikanischen Investors George Soros. Man versucht, sie zu beschuldigen, sie würden Parteipropaganda für die neueste politische Formation in Bulgarien betreiben, den Reformatorenblock aus Demokraten, Grünen und der Partei der ehemaligen EU-Kommissarin Meglena Kunewa. Aber keine Partei kann diese Proteste vereinnahmen. In den Protesten sind auch viele aus der Neuen Linken vertreten, wie man sie in anderen Teilen der Welt erlebt. Auch deswegen ist es ein großer Fehler der Regierung, die Proteste zu ignorieren. Ministerpräsident Stanischew verpasst seine Chance eine jüngere Generation an seine Partei zu binden, indem er sie reformiert und neue Gesichter zulässt.

Wie soll es nach einem Rücktritt weitergehen, wenn das Vertrauen in alle vorhandenen Parteien so gering ist?  

Das ist die große Frage und das Argument der Regierung gegen den Rücktritt, denn es soll keine Alternative geben. Die Wahrheit ist, dass der Rücktritt die geforderte Alternative ist. Wie soll es dann denn weitergehen? Ich erinnere mich noch gut an 1997, an die ersten großen Proteste nach 1989. Wir hatten über 200 Prozent Inflation, es gab keine Lebensmittel, die Geschäfte waren leer. Jeder, der Geld in der Bank angelegt hatte, hat es verloren. Das ist fest in der Erinnerung von jedem verankert. Ich war damals 16 Jahre alt. Der damalige Protest war ein politischer Protest mit Rücktrittforderungen gegen die damalige sozialistische Regierung und hatte eine klare parteipolitische Alternative. Aus diesem Gesichtspunkt mindestens schien der Ausweg viel einfacher als jetzt.

Für mich ist durch die Proteste aber schon das Wichtigste erreicht: eine aktive Zivilgesellschaft, die mit dem Protest zumindest eine Form der Politikgestaltung wiederentdeckt hat. Auch wenn die nächsten Wahlen so ausgehen sollten wie die letzten, was laut Umfragen nicht der Fall sein wird, wird die nächste Regierung wissen, dass sie sich nicht mehr erlauben kann, was Regierung sich bisher erlaubt hat.

Sind durch die Proteste neue politische Strukturen entstanden?

Es gibt zum Beispiel eine sogenannte Antiregierungsinformationsagentur (NOresharski), hinter der sich Journalisten und Blogger verbergen, die - sobald die Regierung einen neuen Politikvorschlag macht - diese Themen mit Experten und Medien vor dem Parlament diskutiert. Darum geht es: Dass die Gesellschaft wieder Mut aufbringt, Fragen zu stellen, ob in der Wirtschaft, wo man sich nicht traut, mit einem bestimmten Großunternehmen zu verhandeln, oder in der Justiz oder in den Medien. Weg von dieser Mentalität, es würde sich sowieso nichts ändern, die wir vom Kommunismus geerbt haben. Nach einer neuen Umfrage ist das auch Vertrauen in demokratische Werte in Bulgarien angestiegen, das gibt mir noch mehr Hoffnung.

Welche Perspektive sehen junge Bulgaren denn in der Krise in ihrem Land? Wie haben die Proteste das verändert?

Wie in Portugal, Spanien oder Griechenland wird die Lücke zwischen dem, was junge Leute können, und dem, was die Arbeitgeber benötigen, immer größer. Vor einigen Tagen habe ich im Radio ein Interview mit Achtklässlern gehört. Ich war beeindruckt, wie selbstverständlich sie über Weltpolitik sprachen. Es muss in Bulgarien ganz schön viel passieren, um diesen Kindern, wenn sie in fünf Jahren aus der Schule raus sind, etwas bieten zu können.

Die negative Rhetorik gegenüber einer bulgarischen Auswanderungswelle, die teilweise in Großbritannien und Deutschland zu hören war, ist aber unbegründet. Ich mache mir viel mehr Sorgen um die Migration innerhalb des Landes und vernachlässigte ländliche Regionen. Bei den Protesten sind auch viele Bulgaren, die wie ich jahrelang im Ausland gelebt haben und wieder zurückgekommen sind. In Wahrheit ist Bulgarien ein sehr schönes Land, um hier zu leben. Auf dem Plakat eines Protestierenden stand sinngemäß: "Das letzte Mal bin ich gegangen, jetzt ist es Zeit, dass ihr geht!"

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