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Tief im Osten. Hertha ist eigentlich ein Ostverein; gegründet in Prenzlauer Berg, groß geworden in Wedding und nun im Olympiastadion in ganz Berlin angekommen. Herthas Fans feiern in der Ostkurve ihre Mannschaft und zeigen auch nach dem Abstieg in die Zweite Liga Ihre Treue. 15.000 Dauerkarten sind bereits verkauft für die kommende Saison, in der es auch gegen den Lokalrivalen 1. FC Union geht. Am Samstag (28.7.) feiert Hertha sein 120-jähriges Vereinsjubiläum mit einem Spiel gegen Juventus Turin.

© dpa

Berlins ältester Fan: Alter Onkel Hertha

Er ist 95 Jahre alt. Die Dame, die er liebt, feiert am Samstag ihren 120ten. Heinz Schulz aus Wedding ist der älteste Hertha-Fan Berlins. Besuch bei einem, der mit seinem Verein in Würde altert.

Dies ist eine Geschichte über würdevolles Altern. Es geht um eine Dame, die immer elf Männer um sich hatte und in ihrem Leben schon zwei große Kriege überstanden und zwei bleibende Siege errungen hat. Und um einen Mann, der immerhin die dritte Ehefrau um sich herum hat; in diesem Jahr feiern sie silberne Hochzeit.

Die Dame, um die es geht, ist in dieser Woche 120 Jahre alt geworden, darum macht sie diesen Samstagnachmittag richtig einen drauf und hat dazu die halbe Stadt eingeladen. Sie ist mit der Zeit etwas zickig geworden (besonders wenn sie mal ein schlechtes Jahr hat), aber eigentlich hat sie sich kaum verändert, die alte Tante. Hertha heißt sie und ist immer so geblieben, wie ihr spröder Name es verheißt und wie es insbesondere Berliner Männer lieben: ein bisschen kantig, ein bisschen tantig, aber immer graderaus.

Der Mann, um den es hier geht, verehrt diese Dame schon sein ganzes Leben lang, er hat Herthas Männer kommen und gehen sehen – vor allem gehen. Heinz ist 95 Jahre alt. Er sitzt in seinem Rollstuhl im Pflegeheim und isst gerade ein Stück Apfelkuchen.

Opa Heinz ist der älteste Fan von Tante Hertha. Die beiden lassen es inzwischen langsamer angehen. Heinz hat’s mit den Ohren, auch das Sprechen fällt ihm nicht mehr leicht. Hertha zieht es derzeit eher in den Beinen.

Bildergalerie: Große Momente aus Herthas Vereinsgeschichte

Zur Wahrheit dieser Geschichte gehört: Hertha hat einen komischen Nachnamen: BSC. Und sie ist gar keine richtige Frau. Sie ist ein Fußballklub, Berlins bekanntester immerhin, Berlins erfolgreichster auch (wenn man mal die zehn DDR-Titel des BFC Dynamo weglässt; Hertha hat nur zwei gewonnen, noch vor dem Zweiten Weltkrieg war das, aber es waren gesamtdeutsche Meisterschaften), immerhin. Nun spielt Hertha, die launige Nudel, mal wieder in der Zweiten Liga. Immerhin? „Dann müssen sie sich eben anstrengen und wieder aufsteigen“, sagt Heinz, während er sich anstrengt und seinen Rücken aufrecht in den Rollstuhl drückt.

Seine Augen sind ein wenig rot unterlaufen, aber die braunen Pupillen schwirren unablässig in seinem Wohn- und Schlafraum hin und her. Hier sitzt er an einem Tisch, auf dem ein kleiner Hertha-Maskottchenbär steht, nun fällt sein Blick auf das Mannschaftsplakat, das seinem Bett gegenüber an der Wand hängt (mit einem Trainer namens Markus Babbel), daneben baumelt der Wimpel „für langjährige Treue“, den ihm Tante Hertha mal geschenkt hat. Seine Hand trommelt leicht auf dem Tisch. „Anstrengen!“, sagt Heinz noch mal. Einer wie er hat das Jammern nicht erfunden.

"Zweite Liga? Müssen sie sich eben anstrengen und wieder aufsteigen!"

Mit Glücksbär. Heinz Schulz in seinem blau-weißen Pflegeheimzimmer in Steglitz.
Mit Glücksbär. Heinz Schulz in seinem blau-weißen Pflegeheimzimmer in Steglitz.

© Thilo Rückeis

Hertha hatte seine größte Zeit, als Heinz klein war. Ein Junge aus dem Nord-Berliner Arbeiterkiez, in dem das Licht der Gaslaternen die Hinterhöfe der Mietskasernen nicht mehr erreichte, ein Junge, der bei Nordstern und bei Rapide Wedding noch gegen richtige Lederbälle trat und an den Wochenenden wie so viele tausende Berliner in feinem Stoff zur Plumpe zog, dem legendären Hertha-Stadion am Gesundbrunnen. „Wir haben von der Brücke aus zugeguckt“, erzählt Heinz Schulz. „Du wolltest wohl keinen Eintritt zahlen?“, fragt Petra Schulz, seine dritte Ehefrau; sie ist 30 Jahre jünger als er und ihre Stimme ist sehr laut, weil sie sonst ihren Heinz nicht mehr erreicht. Der lacht laut zurück, er lacht mit dem Mund und seinen auf- und abhüpfenden Augen. Eintritt? „Nö“, sagt er. Heinz konnte sich anfangs seine Hertha gar nicht leisten, deshalb stand er wie viele Jungs, die die noch junge Fußball-Dame anhimmelten, auf der Millionenbrücke hinterm Stadion und sah von schräg oben hinten, wie ein Stürmer namens Johannes Sobeck, den alle nur Hanne nannten, Tore in Serie schoss und so Berlins erster Fußballstar wurde.

Hertha. Das war der Name eines Ausflugsdampfers, der über die Havel schipperte mit blau-weißen Schornsteinen. Und als vier nicht mal volljährige Jungs aus dem Wedding 1892 einen Fußballklub gründen wollten, erinnerten sie sich an die schöne Ausflugsfahrt und nannten ihren Verein einfach Berliner Fußball-Klub Hertha ’92. Vereinsfarbe: blau-weiß natürlich. Der Dampfer tuckert heute noch über die Kyritzer Seenplatte. Hertha will ihn eigentlich zurückkaufen, hat aber gerade wieder gar kein Geld.

„Blau-weiße Hertha, dir gehört der Sieg – Keiner spielt so schön wie du, schießt wie du, trifft wie du – du bleibst unser Sportverein – Schuss, Tor, hinein!“ So dudelte es später Wochenende für Wochenende aus den Lautsprechern vor der Uhrentribüne und dem Zauberberg, den steilen Stehplatztribünen hinter den Toren, auf denen man anfangs von schräg oben hinten nur Hüte sah, und unten schuftete sich eine Mannschaft von Sieg zu Sieg. 1930 und 1931 sollte es reichen zu Herthas einzigen Meisterschaften, gefeiert mit über den Bordstein bordenden Triumphzügen von der Friedrichstraße bis hoch zum Gesundbrunnen, wo im riesigen Festsaal Lichtburg getafelt und getrunken wurde, elegant im Ausgehanzug und mit besten Zigarren. Heinz war 14 und kam seiner Hertha nur in schwärmerischen Gedanken richtig nahe.

Du bleibst unser Sportverein – Schuss, Tor, hinein!

Kurz darauf zog der Hitlergruß auf den Tribünen ein, Heinz musste in den Krieg; damit er nicht als junges Kanonenfutter endet, ging er zu den Fallschirmjägern. Nach der Kriegsgefangenschaft kam er zurück in den zerbombten roten Wedding, baute sein Leben und seinen Stadtteil neu auf, auch die Plumpe. Er machte sich selbstständig am Gesundbrunnen, mit einer Kneipe, in der nicht nur Herthas Fans gerne ein Schultheiss nachbestellten, sondern auch die Spieler, mit einer Kneipe, die sich Abend für Abend ihren Namen verdiente: „Die gute Lage“ in der Müllerstraße. Heinz war Chef vons Janze, das bleibt auch den Herthanern, die hier nach der Gründung der Bundesliga 1963 ihre Mannschaftssitzungen abhielten und den einen oder anderen Skat kloppten, nicht verborgen. „Hanne, Helmut Faeder und wie die Jungs alle hießen“, erinnert sich jetzt Heinz. „Die kannten mich und haben mich manchmal ins Stadion reingeholt.“ Heinz lacht laut. Wieder Eintritt gespart.

Uff’n Wedding inna Plumpe

Heinz’ Frau lacht mit, obwohl sie auch diese Geschichte schon oft gehört hat. „Sein Langzeitgedächtnis funktioniert besser, kurzzeitmäßig hat er schon Löcher“, sagt Petra, die ihren Mann seit 40 Jahren kennt und sein Leben folgendermaßen zusammenfasst: „Wein, Weib, Gesang, Hertha. Und viel Sport hat er getrieben.“ Heinz fuhr Wasserski, spielte Tennis und natürlich Fußball bis zu einer Verletzung – die Fotos seiner Heldentaten hängen an der Pinnwand über dem Tisch, an dem er sitzt und mit den Fingern trommelt, ein paar Freunde und Freundinnen sind auch drauf, die meisten sind inzwischen tot.

Eines aber hat sich für Heinz nie verändert in seinem bewegten Leben: Woche für Woche, Jahrzehnt für Jahrzehnt war er stets bei seiner Tante Hertha, uff’n Wedding inna Plumpe oder ab den Siebzigern am Westend im Olympiastadion – egal, ob es schneite oder schüttete, egal ob Hertha gerade wieder knapp an der Meisterschaft vorbeischrammte (in den Siebzigern, in den Neunzigern und zuletzt 2009) oder ob Berlin als einzige europäische Hauptstadt gerade wieder auf die harten Bretter der Zweiten Liga geschickt wurde (in den Siebzigern nach dem großen Bundesliga-Bestechungsskandal, als Hertha-Spieler vor einer Niederlage einen Geldkoffer vom späteren Sieger annahmen; in den Achtzigern, den Neunzigern und jetzt gerade schon wieder).

Tante Hertha und die jungen Männer – das ging nie lange gut

„So ein Mist, wie die heute wieder gespielt haben“, rief er an vielen Abenden, an denen er nach Hause kam und seinen blau-weißen Schal von seinem Körper abpulte. Aber er ging trotzdem wieder hin beim nächsten Mal, bei jedem Heimspiel war er dabei, auch wenn seine Freunde irgendwann die Lust verloren angesichts des Gegurkes auf dem Platz oder des Gepöbels außerhalb (oder weil es im Olympiastadion im Winter so oft zog). Heinz ärgerte sowieso was anderes an Hertha: „Die haben alle ihre jungen talentierten Spieler abgegeben.“ Tante Hertha und die jungen Männer – das ging nie lange gut. Sie stand offenbar auf ältere, ihr letzter Trainer Otto Rehhagel durfte sogar ganz alt aussehen.

Lange Liebe birgt oft ein Geheimnis in sich. Vielleicht das: Mitfiebern und Händchenhalten, wenn es nicht läuft. Ungläubiges Genießen, wenn plötzlich alles passt. Ständiges Neuentdecken alter Schrulligkeiten. Es muss nur drüber lachen können, wer in Würde altern will.

Heinz und seine Frau können drüber lachen, auch über sich selbst. Sie erträgt die unglückliche Liebe ihres Mannes schon einige Jahrzehnte lang, richtete auch ihre Pläne und Emotionen nach Herthas Spielplan aus, „Ich bin eben eine Hertha-Braut“, sagt sie. Er schaut sie an und gibt ihr einen lautlosen Kuss durch die Luft.

Das letzte Mal vor seinem Sturz, der ihn vor zwei Jahren fast um sein Leben brachte, waren sie gemeinsam im Olympiastadion: Petra und Heinz bei Tante Hertha. „Es war gegen Hannover, Hertha hat gewonnen“, sagt Heinz. „Siehste, da gehe ich mal mit, dann gewinnen sie auch“, sagt Petra. Siehste, lohnt sich doch, bei mir vorbeizukommen, würde Hertha sagen, wenn die Tante reden könnte.

"Union? Die spielen doch in den Ost-Sektoren"

Ob er noch ein letztes Mal vorbeikommt? Heinz weiß nicht, wie das gehen kann mit seinem Rollstuhl, aber er möchte schon gerne noch mal die blau-weiße Ostkurve mit den tausenden Fans sehen, die neuen Spieler anfeuern, die mal wieder den Wiederaufstieg schaffen sollen. Wie wärs mit dem Derby gegen den 1. FC Union, dem nächsten Berliner Zweitligaduell mit Erstliga-Atmosphäre? „Union? Die spielen doch in den Ost-Sektoren“, sagt Heinz. Recht hat er ja, irgendwie: Union ist der Verein der Schlosserjungs aus Köpenick, 46 Jahre jung und doch mit viel Tradition. „Ja, da komm ich mit“, sagt Heinz.

Allerdings müsste Hertha, wenn sie ihren Heinz wiedersehen will, erst mal im Seniorenpflegeheim an der Steglitzer Bergstraße vorbeikommen und ihn abholen. Ob sie das machen würde für ihren ältesten Fan? Es wäre eine große Überraschung für Heinz, auch wenn seine Augen jetzt vor Vorfreude funkeln. „Bis es soweit ist, hat er das wieder vergessen“, sagt seine Frau. Heinz lacht, auch über sich, er nimmt das Diktiergerät, das auf dem Tisch liegt und all seine Anekdoten aufgenommen hat, drückt auf den Aufnahmeknopf und spricht hinein: „Hallo, hier ist Heinz, der Mann, um den sich alles dreht.“ Ob Hertha ihn diesmal erhört?

Hertha ist ein bisschen vergesslich geworden. Sie macht zuweilen den Eindruck, als wüsste sie nicht mehr, dass viele ihre Liebe an sie geheftet haben; sie hat auch verdrängt, dass sie eigentlich aus dem Osten kommt. Gegründet 1892 in einer Kneipe unweit vom Arkonaplatz in Prenzlauer Berg, wurde sie im Wedding zum Kultverein des Berliner Nordens und später in Charlottenburg zum Volksklub für die gesamte Stadt, auch als die geteilt war. 120 Jahre voller Launen und Liebe sollen heute gefeiert werden, zum Jubiläum spielt im Olympiastadion Tante Hertha gegen Tante Juve aus Turin. Heinz wird dann unter dem Wimpel sitzen, den ihm Hertha mal vermacht hat für ewige Treue, und sich ein Stück Kuchen extra gönnen.

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