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Außer Rad und Band. Die Universitätsstadt Utrecht hat sich zum Tour-Start besonders geschmückt.

© Reuters

Start der Tour de France in den Niederlanden: Nirgendwo ist der Kult ums Fahrrad größer

Die Niederlande sind Gastgeber beim Start der Tour de France an diesem Samstag. In Utrecht wird dabei deutlich, wo es die vielfältigste Radkultur der ganzen Welt gibt.

Weit reisen müssen die niederländischen Fans diesmal nicht. Anstatt mit ihren Campingautos die Serpentinen nach l’Alpe-d’Huez vollzuparken, können sie den Start der Tour de France am Samstag in der Heimat erleben. Der Grand Départ in Utrecht ist bereits der sechste Tourstart in den Niederlanden – das ist Rekord in Sachen Auslandsstarts für das größte Radrennen der Welt.

Zu verdanken ist das, neben der Zahlung von etwa vier Millionen Euro an den Veranstalter, auch der gewaltigen Liebe der Niederländer zum Zweirad. Zwar haben sie nicht den Erfinder des modernen Fahrrads hervorgebracht. Das war der badische Forstbeamte Karl Freiherr von Drais. Zwischen den Deichen wurde auch nicht das früheste Straßenrennen der Welt ausgetragen. Das führte 1869 von Paris nach Rouen und wurde – wie später auch die Tour de France – von einer Sportzeitung aus Werbegründen ins Leben gerufen.

Die Holländer haben die vielfältigste Radkultur der Welt entwickelt

Nein, Holländer sind keine großen Erfinder im Fahrradgewerbe. Aber sie haben dafür die vielfältigste Radkultur entwickelt. Diese Kultur beinhaltet etwa die Vorfahrtregelung für gewöhnliche Radfahrer bei Kreisverkehren. Und die unendlich anmutenden Anschließgelegenheiten für Fahrräder an Bahnhöfen und anderen zentralen Orten der Städte. 20 000 Räder fasst allein der Hangar vor dem Utrechter Bahnhof. Man sieht auch oft verliebte Paare, die Händchen haltend, jeder auf seinem Rad, nebeneinander durch den Berufsverkehr fahren. Mitunter transportieren sie bereits ein Kind vorn im Korb oder im Anhänger. Holländische Reisende ziehen auch mal entspannt den Rollkoffer nach, wenn es per Rad zum Bahnhof geht. Wieder andere lassen sich vom angeleinten Hund ziehen. Manche spannen bei Regen den Schirm auf und halten dabei nicht mal an. Und bei diesen alltäglichen Geschicklichkeitsübungen schaut die Polizei freundlich zu.

Mein Fahrrad, mein Haus, meine Stadt. Utrecht freut sich auf die Tour de France.
Mein Fahrrad, mein Haus, meine Stadt. Utrecht freut sich auf die Tour de France.

© AFP

Die Bewegung mit dem Rad ist aus diesem Land nicht mehr wegzudenken. Den Ausschlag gab, glaubt man den Chronisten, eine politische Umsteuerung. Der Anlass waren Stau, Smog und Unfalltote durch den zunehmenden Autoverkehr sowie die durch steigende Ölpreise ausgelöste Energiekrise. Transparente mit der Aufschrift „Stop Kindermoord“ hielten engagierte Mütter hoch, als 1971 die Zahl der Verkehrstoten auf mehr als 3000 Menschen anstieg, darunter 450 Kinder.

Die Politik reagierte, langsam zwar, wie es die Sache der Politik ist, in diesem Falle aber konsequent. Die Radinfrastruktur wurde ausgebaut. Pro Kopf 26 Euro jährlich gibt die Fahrradwelthauptstadt Groningen (180 000 Einwohner) mittlerweile für Investitionen in den Fahrradverkehr aus. In Amsterdam sind es 25 Euro. In London, das seit einigen Jahren aufholt, waren es laut einer von der BBC zitierten Statistik der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) immerhin 11,50 Euro. Berlin ist mit knapp 1,6 Millionen Fahrten mit dem Rad pro Tag wenigstens in dieser Disziplin Europas Radhauptstadt, aber dümpelt mit 2,40 Euro pro Jahr und pro Nase hinterher. Sollte es den Senat reizen, mal wieder wegen eines Grand Départs der Tour vorzufühlen, dann sollte zunächst hier draufgepackt werden.

Mehr als 13000 niederländische Radfahrer erkundeten Utrecht kurz vor dem Auftakt der Tour de France. Dort findet am Samstag die 1. Etappe statt.
Mehr als 13000 niederländische Radfahrer erkundeten Utrecht kurz vor dem Auftakt der Tour de France. Dort findet am Samstag die 1. Etappe statt.

© dpa

Die Rad-Revolution im holländischen Alltag ging interessanterweise auch mit den goldenen Zeiten des heimischen Profiradsports einher. Der Sprinter Jan Raas und der Rundfahrer Joop Zoetemelk begeisterten in den siebziger und achtziger Jahren die Massen und sorgten für ein frühes Oranje-Feeling bei der Tour. Zoetemelk stellte sogar einen eigenen Rekord mit sechs zweiten Plätzen im Gesamtklassement auf – bei nur einem Gesamtsieg. Er hatte das Pech, ein Jahr nach Eddy Merckx geboren worden zu sein. Drei Mal platzierte sich der Belgier vor ihm. Und danach überschnitt sich Zoetemelks Karriere mit der eines weiteren Fünffachgewinners der Tour: Bernard Hinault.

Die ersten mit Epo-Doping verbundenen Todesopfer kamen aus Holland

Eine andere, dieses Mal düstere Verbindung ist für die späten achtziger und frühen neunziger Jahre zu beobachten. Die ersten mit Epo-Doping verbundenen Todesopfer kamen mit Bert Oosterbosch (gestorben 1989) und Johannes Draaijer (gestorben 1990) aus den Niederlanden. Draaijer starb im Alter von 26 Jahren, bei seiner Obduktion wurde „das Herz eines 70-jährigen Mannes“ festgestellt. Zwar wurde Epo als Todesursache immer wieder angezweifelt. Der irische Journalist Paul Kimmage fand aber einen interessanten Zeitzeugen. Landsmann Pat McQuaid, später UCI-Präsident, erinnerte sich, wie sich 1986 bei einem Rennen in Irland der damalige Amateur Draaijer vom Profifeld absetzte und über eine Viertelstunde Vorsprung herausholte. „Als Sportfan liebt man den Außenseiter. Er hat zwar nicht die Etappe gewonnen, aber er bekam einen Profivertrag danach. Später fand man ihn tot, wegen Epo“, sagte McQuaid.

Fahrräder soweit das Auge sieht. 20.000 Räder fasst allein der Hangar vor dem Utrechter Bahnhof.
Fahrräder soweit das Auge sieht. 20.000 Räder fasst allein der Hangar vor dem Utrechter Bahnhof.

© AFP

Draaijer war eines der freiwilligen Versuchskaninchen, die die neue Wunderdopingsubstanz ausprobierten. Ein knappes Dutzend von ihnen bezahlte Dosierungsfehler mit dem Leben. „Moord“ schrie da niemand. Denn eine ganze Generation von Profis lernte auch durch die Todesfälle die bessere Dosierung beim Spritzen. Trotz der heimischen Pharmazieprobanden endete mit der Einführung von Epo die glorreiche Phase der Niederländer bei der Tour. Erik Breukink war 1989 der letzte von insgesamt elf holländischen Trägern des gelben Trikots in den achtziger Jahren. Bis heute fand er keinen Nachahmer mehr.

Die Gastgeber des Tourauftakts 2015 mag es trösten, dass in Zeiten des abnehmenden Epo-Missbrauchs mit Tom Dumoulin endlich einer ihrer Landsleute gleich beim Prolog eine erstklassige Chance auf das gelbe Trikot hat. Der Zeitfahrspezialist vom Team Giant Alpecin fährt mittlerweile auf Augenhöhe mit dem früheren Weltmeister Tony Martin.

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