zum Hauptinhalt
Der ungewöhnliche Aussichtsturm neben dem Olympiastadion ist Londons neueste Touristen-Attraktion.

© Reuters

Olympische Spiele in London: Das East End zeigt die Zähne

London ist für die Olympischen Spiele gerüstet. Aber viele Bewohner im Osten der Stadt sind ziemlich entsetzt darüber, was aus ihrem romantischen Viertel geworden ist.

Wer im grünen Lea Valley im Nordosten Londons spazieren geht, dem bietet sich ein bemerkenswertes Panorama. Auf einer kleinen Insel zwischen zwei Flussausläufern schnellt ein korbförmiges Stadion mit weißem Gerippe aus dem Boden. Links davon steht eine 115 Meter hohe, wilde Skulptur aus Stahl. Noch weiter östlich zwei kleinere Gebäude mit wellenförmigen Dächern: das futuristisches Hallenbad der Architektin Zaha Hadid und ein gewagt geschwungenes Velodrom mit Holzverkleidung, unter Anwohnern bereits als „the Pringle“ bekannt, der Kartoffelchip.

Es lässt sich nicht übersehen: London hat sich gerüstet für die Olympischen Spiele, die am 27. Juli beginnen. Aber ebenso wenig ist zu übersehen, dass in diesem Teil der Stadt nicht jeder damit einverstanden ist. Das Panorama wird durch einen alten Fabrikschornstein vollendet, auf den ein Straßenkünstler ein Graffiti gesprayt hat: ein riesiges Gebiss mit rosa Zahnfleisch. Das East End zeigt Olympia die Zähne.

Das East End ist für Londoner mehr als nur ein Stadtteil. Im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Bomben schwer beschädigt, sagt man den Anwohnern ein außergewöhnliches Durchhaltevermögen und einen einmaligen Gemeinschaftsgeist nach – der berühmte „Blitz Spirit“ der Londoner findet seinen Ursprung im Osten. Jedes englische Kind weiß, dass der damalige Premier Churchill nach dem ersten Bombenangriff auf London diese Gegend besuchte, um die aufopferungsvolle Haltung der einheimischen Arbeiter, der „Cockneys“ zu ehren.

Echte Cockneys findet man in Ost-London inzwischen selten: Die Romantik der Gegend zieht seit Jahren Künstler, Musiker und andere Bohemiens an. Zum Beispiel Daniel Speight. Der 30-jährige Künstler fährt mindestens einmal im Monat mit seinem Hausboot an dem Schornstein mit dem Graffiti vorbei, um kurz vor dem neuen Olympiastadion Duschwasser aufzutanken. „Ich bin mal neugierig, ob die sich trauen, auch die Graffiti hier wegzumachen“, sagt er. „Dafür würden Kunsthändler nämlich ganz schön was zahlen.“

Speight zog vor 16 Monaten mit seiner Freundin Lucy in das Hausboot, die „Firefly“. Eine gemeinsame Wohnung konnten die beiden sich nicht leisten – für eine Einzimmerwohnung im vergleichsweise billigen East End zahlt man gut 900 Pfund, an die 1200 Euro, im Monat. Die „Firefly“, die sie mit von ihren Eltern geliehenem Geld kauften, kostet sie gerade einmal 800 Pfund pro Jahr an Gebühren.

Auf den Kanälen von Ost-London fand Speight genau das, was man im Rest der britischen Hauptstadt oft vermisst: gute Nachbarschaft. Er beschreibt Londons Hausbootler als eine „Gemeinschaft von Außenseitern“, inklusive eigenem Wirtschaftssystem. „Da gibt’s diesen alten Typen, der vom Reparieren anderer Boote lebt, oder Lizzy, die uns mit Kohle und Gas versorgt. Das geht nur, wenn man sich gegenseitig vertrauen kann. So ein Miteinander gibt’s nirgendwo anders in London.“

Auf die Olympischen Spiele ist man in der Hausboot-Gemeinde nicht gut zu sprechen. Kürzlich bekam Speight eine E-Mail, in der British Waterways ankündigte, dass die Kanalstrecke beim Olympiastadion von Juli bis September in eine „kontrollierte Zone“ umgewandelt werde. Wer keinen dauerhaften Ankerplatz besitzt (etwa 5000 Pfund pro Jahr), müsse sich für eine der begrenzten Sommerlizenzen bewerben (360 Pfund für zehn Wochen). Und wer sich dies nicht leisten kann – wie zum Beispiel Daniel und Lucy –, solle doch bitte irgendwo außerhalb der Stadt einen Anlegeplatz finden. Speight ist sich sicher: Es handelt sich hier um einen „whitewash“, die Räumung der Olympischen Zone von all jenen Elementen, die sie so interessant machen.

Es gibt nicht nur die romantischen Ecken

Wenn man die britische Binnenwasserbehörde nach einer Begründung für die Sperrzone fragt, bekommt man die Antwort, Sicherheitsgründe hätten sie zu diesem Schritt gezwungen. So ernst scheint man es mit der Sicherheit aber dann doch nicht zu nehmen: Jeder Tourist, der es sich leisten kann, für 300 Pfund pro Woche eine „Premium Olympics Mooring“-Lizenz zu erwerben, darf sein Boot im Sommer hier anlegen. Die Behörden beteuern, dass die Preise nach den Spielen wieder sinken werden, es handle sich schließlich um einen „once-in-a-lifetime-event“. Sie leugnen aber auch nicht, dass man mit diesem einmaligen Ereignis richtig Geld machen will. An der Stelle, wo Speight Wasser holt, liegen seit Wochen schon neue Wassertaxis bereit, auf denen Touristen durch die Stadt geschippert werden sollen. Fahrten kosten bis zu 95 Pfund für Erwachsene, 50 Pfund für Kinder.

Neben dem romantischen East End gibt es eine andere Version von Ost-London: ein heruntergekommener Teil einer der reichsten Städte der Welt, der mit Hackney, Newham und Tower Hamlets drei der ärmsten Bezirke des ganzen Landes beherbergt. In Tower Hamlets leben mehr als die Hälfte der Kinder in Armut. Auch die Randale und Plünderungen, die im vergangenen Sommer die Hauptstadt erschütterten, fingen im Osten der Stadt an, wenn auch etwas weiter nördlich, in Tottenham.

Man hofft, dass Olympia diese Probleme langfristig bekämpfen kann. „Vermächtnis“ ist das Lieblingswort von Sebastian Coe, dem ehemaligen Mittelstreckenläufer und Komitee-Vorsitzenden, der die Spiele vor sechs Jahren nach England holte. Die Organisatoren bestehen heute darauf, dass es gerade das Regenerationspotenzial der Londoner Bewerbung war, durch das Paris im vierten Wahlgang abgehängt wurde.

Das sind nicht alles leere Worte: Das Verkehrsnetz der Stadt wurde ausgebaut, um den Verkehr im Osten zu entlasten. Im September 2011 öffnete ein neues Einkaufszentrum in Stratford, das drittgrößte in Großbritannien. Olympische Bauten sind nach den Spielen entweder schnell abbaubar oder sollen in 2818 neue Wohnungen umgewandelt werden – die Organisatoren versichern, dass mindestens die Hälfte davon „bezahlbar“ sein würde. Der Olympische Park, der Turm aus Mittal-Stahl und Zaha Hadids Schwimmhalle werden in öffentlichen Besitz übergehen.

Wochen vor dem Start der Spiele gibt aber immer noch reichlich Ungeklärtes. So ist offen, ob das Olympiastadion nach den Spielen dauerhaft in ein Leichtathletikstadion umgewandelt oder an einen der lokalen Fußballclubs Tottenham Hotspurs und West Ham United verkauft werden wird. Bedenken gibt es auch bei Hadids „Aquatic Centre“, dessen 50-Meter-Bahnen für Olympia zwar ideal sind, weniger aber für planschende Kinder, die ihren Freischwimmer machen wollen. Und ob die Eröffnung des größten McDonald’s der Welt im olympischen Dorf in Stratford den aufstrebenden Nachwuchssportlern Londons eine Hilfe oder ein Hindernis sein wird, lässt sich immerhin diskutieren.

Besonders die Hoffnung, dass die Olympischen Spiele die chronische Arbeitslosigkeit in der Gegend lösen können, bezweifeln viele. „Jetzt mal im Ernst: In der Gegend hier gibt es schon seit Jahren keine neuen Jobs“, sagt Johnnie Walker, 79, der in der Nähe des Olympischen Parks wohnt. „Und diese bloody Olympics haben daran nix geändert. Das sind doch alles ausländische Firmen, die hier arbeiten.“ Das olympische Komitee sagt, 12 000 Londoner würden während der Spiele eine Anstellung finden.

Walker klingt wie ein waschechter Cockney – aus „water“ wird bei ihm „wa’er“. Schon seit Mitte der 50er kann man ihn fast jeden Sonntagmorgen auf den Hackney Marshes finden, dem grünen Parkgebiet, das sich zwischen Dan Speights Anliegeplatz und dem Olympiastadion erstreckt.

Kampfeslustig ist er, und trotzdem ein bisschen stolz

Die Marshes gehören zum East- End-Mythos wie die Cockney-Gangster. Nirgendwo anders auf der Welt finden sich so viele Fußballplätze auf so engem Raum wie hier; vor ein paar Jahren waren es mehr als 100 Spielfelder. Johnny Walker, so behauptet er, kennt jeden der heutigen 73 Plätze persönlich: als Vorsitzender der Hackney and Leyton Sunday Football League, aus seiner Trainerzeit oder von damals, als er noch selber auf den Marshes spielte. „Ein bisschen wie Puskas“ sei er gewesen, elegant, mit Torriecher, aber auch ganz schön bissig, bevor er bei einem Auswärtsspiel mit einem Herzinfarkt umkippte.

Kampflustig ist Walker auch heute noch, und zum Thema Olympia hat er eine klare Meinung. „Sebastian Coe würde ich liebend gerne einen linken Haken versetzen. Kann den Typen nicht leiden. Die reden alle groß von Amateursport, haben dabei aber keinen Gedanken daran verschwendet, was das für die Gegend bedeuten könnte.“

Im Dezember sagte der konservative Kultur- und Sportminister Jeremy Hunt, man wolle mit Olympia die „Schul- und Amateurbeteiligung bei sportlichen Wettbewerben erweitern und die gesamte Bevölkerung dazu animieren, körperlich aktiver zu werden“. Und Anfang des Jahres versprach die Regierung einen ordentlichen Batzen Geld für die Unterstützung des Jugendsports.

Trotzdem ist Johnny Walker überzeugt, dass es für junge Menschen aus Ost-London heutzutage schwieriger ist, organisierten Sport zu betreiben, als es für ihn in seiner Jugend war. 15 seiner besten Fußballplätze hat er bereits an Olympia verloren; auf einigen steht heute das olympische Medienzentrum, andere mussten einem Behindertenparkplatz weichen. Zwar habe man ihm versprochen, dass der Parkplatz bis September 2013 wieder bespielbar sein werde, überzeugt ist Walker aber nicht. „Dafür haben die schon zu viele Versprechen gebrochen. Unsere alte Umkleidekabine und drei unserer besten Plätze haben die gestohlen, bevor die Saison vorbei war. Einfach so über Nacht: weg!“

Wenn er mit seiner Schimpfrede zu Ende ist, geht Johnny Walker doch noch in das verhasste Sportzentrum und bestellt sich in der neuen Kantine eine Tasse Kaffee. Die Angestellten kennen ihn gut. „Mir kann hier doch keiner wirklich was übel nehmen“, sagt er. Nicht ohne Stolz zeigt er dann auf das neue Spielfeld, das jetzt direkt vor dem Sportzentrum liegt: „Ein Juwel von einem Fußballplatz ist das.“ Vollkommen, hat man das Gefühl, will sich selbst Walker nicht gegen die Modernisierung des East End stemmen.

Ein paar hundert Meter westlich hat Dan Speight seinen Wassertank gefüllt und tritt die Heimreise zu seinem neuen Anlegeplatz außerhalb der Sperrzone an. Bevor das olympische Panorama hinter ihm in der Abenddämmerung verschwindet, zeigt er noch einmal auf den Stahlturm, den der Künstler Anish Kapoor entworfen hat: „Die Skulptur ist gar nicht schlecht – Humor in der Kunst wird oft unterschätzt. Wir sind ja nicht gegen Gentrifizierung, schließlich haben wir ja selbst dazu beigetragen. Erst kommen immer die Künstler, dann die Hipster, dann die Bauunternehmer: Das ist immer so. Aber ich will wenigstens, dass jemand wahrnimmt, dass wir bei dieser Entwicklung eine Rolle gespielt haben.“

Philip Oltermann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false