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Dauerabklatschen. Gegen Brasilien spielt sich die deutsche Fußballnationalmannschaft in einen Rausch.

© Reuters

8. Juli 2014, WM- Halbfinale gegen Brasilien: 7:1 für Deutschland: Die Geschichte eines epochalen Sieges

Vor genau einem Jahr demütigte Deutschland den WM-Gastgeber Brasilien mit 7:1. Unsere Analyse nach der historischen Begegnung noch einmal zum Nachlesen.

Dieses Mal gingen die Ersatzspieler nur halbherzig hoch. Als Toni Kroos rasch noch das 4:0 nachlegte, honorierte das die deutsche Reservebank zwar durchaus, nur irgendwie nicht mehr so exaltiert, wie eben beim Tor von Kroos zum 3:0. Man hatte ja fast schon den Eindruck, die deutschen Ersatzspieler trauten sich nicht mehr so recht, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Es war irgendwie zu viel des Guten, zu unwirklich. Da fielen Tore für die Ewigkeit – gepresst in die Zeitspanne eines gekochten Frühstückseis.

Genaugenommen waren es vier Tore in sechs Minuten. Gegen Brasilien! In einem WM-Halbfinale – und das in Brasilien! 7:1 hieß es am Ende. Ein einzigartiges Ergebnis. Ach was, ein epochales Ereignis!

Für ein solches Ergebnis braucht man für gewöhnlich drei oder vier Siege. Für die Deutschen war es im 22. Duell mit dem fünfmaligen Weltmeister der fünfte Sieg. Für die vier Siege davor (und ein Torverhältnis von 9:4) brauchte Deutschland 46 lange Jahre, oder fünf Generationen von Nationalspielern. Aber in dieser einen Nacht von Belo Horizonte waren es fünf Minuten bis zur Unsterblichkeit.

„Das war wie im Film, alles ging so schnell“, sagte Christoph Kramer, einer von der deutschen Bank. „Nach dem 3:0 und 4:0 kannst du es dann kaum glauben. Wir waren am Jubeln, haben uns dabei aber auch angeguckt: Was passiert hier gerade?“

Die Deutschen aber spielten in diese Minuten wie auf unsichtbaren Schienen

Der Takt der Tore war betörend. Unter den Füßen der brasilianischen Spieler schien sich die Erde zu bewegen, ja förmlich zu öffnen. Und womöglich wäre der eine oder andere von ihnen auch gern darin versunken. Die Deutschen aber spielten in diese Minuten wie auf unsichtbaren Schienen – geräuschlos gleitend, unbremsbar, zielführend. „Wir haben in diesen Minuten jeden einzelnen Pass richtig gespielt. Fantastisch, wie wir noch mal quer gelegt haben. Chapeau vor den Jungs da vorne“, sagte Mats Hummels.

Es waren fünf Minuten, in denen Deutschland den Traum einer ganzen Nation zu Grabe schoss. Es waren Minuten historischen Ausmaßes. Dieses 1:7 lässt selbst die größte Schmach der Brasilianer in ihrer Fußballgeschichte verblassen; jenes 1:2 gegen das kleine Uruguay im finalen Spiel bei ihrer letzten Heim-WM vor 64 Jahren, das so schwer auf der brasilianischen Seele lag. Und selbst, dass Miroslav Klose mit seinem Tor auch noch den brasilianischen Fußballhelden Ronaldo als WM-Rekordtorschützen vom Sockel holte – eine Nebensächlichkeit. Nein, hier war mehr passiert, Schlimmeres. Ein 200-Millionen-Volk wurde Zeuge eines Desasters ungeahnter Dimension.

Mats Hummels war einer der Ersten, der die Einmaligkeit dieser Momente in Worte fasste. „So etwas gab es noch nicht oft und wird es auch nicht mehr oft geben“, sagte der Dortmunder Verteidiger im grell ausgeleuchteten Keller des Estadio Mineirao. Da schnappten die Brasilianer draußen noch nach Luft.

„Mitleid gibt es nicht, Mitleid ist im Fußball definitiv fehl am Platz“

Luiz Felipe Scolari hatte seine Mannschaft direkt nach dem Zusammenbruch noch einmal zusammengerufen. Nahe dem Mittelkreis bildete sie eine tragische Gruppe mit gesenkten Häuptern. Von oben sah sie aus wie ein gelbes Häuflein Elend. Es waren Bilder, die um die Welt gingen. Die stolze Fußballnation, die sich wie keine andere über Fußball definiert, schaute in den Abgrund – zerlegt, erniedrigt, zerfleddert. „Das ist die schlimmste Niederlage aller Zeiten“, sagte Scolari hinterher und ruderte so lange mit den Armen bis er sie sich vors Gesicht schlug und dort für eine kleine Ewigkeit beließ, so als schäme er sich vor aller Welt.

Viele in dieser Nacht wussten nicht, wohin mit ihren Emotionen. Der brasilianische Stürmer Fred konnte kaum reden, als ihm der Mann vom brasilianischen Fernsehen das Mikro hinhielt. „Das ist eine Narbe fürs Leben“, stammelte er. Er hatte tränenverhangene Augen.

Selbst Kevin Großkreutz kam aufs Feld gelaufen nach Spielschluss, nicht weil der deutsche Ergänzungsspieler aus Dortmund auch noch mal aufs Tor der Brasilianer schießen oder mit seinen Kollegen wild feiern wollte. Großkreutz war zum Trösten gekommen. Irgendwie griff sich nach und nach jeder deutsche Spieler einen brasilianischen.

Mitleid? „Mitleid gibt es nicht, Mitleid ist im Fußball definitiv fehl am Platz“, sagte Philipp Lahm. Mitgefühl? „Mitgefühl immer.“ Die Deutschen hätten es doch 2006 bei ihrer Heim-WM selbst erlebt, wie es ist, wenn man dem Druck nicht standhält und im Halbfinale strauchelt. „Man hat zu Hause den großen Traum, das Finale zu bestreiten und Weltmeister zu werden. Ein Aus ist dann bitter, sehr bitter.“

Himmel, was war das für ein Spiel, sagten die Augen von Thomas Müller. Doch dann wurde er irdisch, wie wenn er die Irrationalität dieses Spiels mit abgeduscht hätte. „Ist schon ein beeindruckendes Ergebnis“, sagte der Schütze des Führungstores, der nicht nur schnell zum Flugzeug, sondern sich hinüberretten wollte ins Rationale. „Um es humorlos darzustellen und die Fakten auf den Tisch zu bringen: Wir sind eine Runde weiter, genauso wie gegen Algerien. Der Sieg hat uns nicht mehr gebracht, als eine Runde weiterzukommen.“

Die deutsche Mannschaft hatte in Belo Horizonte tatsächlich etwas Monumentales

So kann man es, so muss man es wohl auch sehen. Die deutsche Elf hat das WM-Endspiel erreicht, das am Sonntag in Rio de Janeiro ausgetragen wird. Nicht mehr. Oder doch? Müller ahnte schon, dass sich das Ereignis von Dienstagnacht nicht so einfach wird abstreifen lassen. „Die Favoritenrolle für das Finale werden wir wohl nicht mehr los, wie ich euch kenne“, sagte er im Plauderton zu den Reportern. Ha, und dann ein Untergang des Favoriten im Finale, „das geht ja immer ganz schnell“. Aber ja, dieses Ergebnis stärke den Glauben und schwelle die Brust. Egal gegen wen es gehe, ob Holland oder Argentinien, „wir werden wieder alles raushauen müssen“.

Die deutsche Mannschaft hat tatsächlich etwas Monumentales in den Rasen von Belo Horizonte gemeißelt. Wie aber werde man mental fertig mit einem 7:1 über Brasilien, wollte ein englischer Journalist von Toni Kroos wissen. Man werde schon fertig damit, sagte der brillante Spielgestalter Kroos, der hinterher zum „Man oft he Match“ gekürt wurde. Brasilien werde aufstehen und wiederkommen, sagte der 24-Jährige. Und überhaupt sei noch nie eine Mannschaft Weltmeister im Halbfinale geworden.

Und so versuchten alle im deutschen Team, das Betörende dieses Halbfinales irgendwie aus den Köpfen zu bekommen. „Wir dürfen nicht anfangen zu glauben, dass wir durch dieses Spiel irgendwelche Vorteile haben“, sagte Manuel Neuer, als er an Thomas Müller vorbeischlenderte. Müller sprach dann den vielleicht schönsten Satz in diese so magische Nacht hinein. „Wir sind eine Mannschaft mit einem geilen Team.“ Wie immer er das auch meinte.

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