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Goalball wird nur bei den Paralympics gespielt. Hier die Partie Brasilien gegen Kanada.

© REUTERS

Paralympics in Rio 2016: Goalball: Familienfest mit Unbekannten

Die Paralympics stellen Rio vor eine noch größere Herausforderung als Olympia. Doch die Brasilianer geben sich Mühe. Ein Besuch beim Goalball.

Von Ronja Ringelstein

Lucia Palatnik springt von ihrem Sitz auf. Für einen kurzen Moment ist sie in dem gelb-grünen Farbenmeer gar nicht mehr zu sehen, dann reißt sie die Arme nach oben und schwenkt wild fuchtelnd ihren Schal und lacht. Ein tosendes Geschrei geht durch die Halle – es ist wie die Erlösung nach einer harten Anstrengung. Eine kollektive Erleichterung, die sich in ohrenbetäubendem Klatschen, Pfeifen und Schreien auflöst. Und Lucia schreit mit. „Brasil! Brasil!“ Dann die Ansage aus den Lautsprechern: „Be quiet, please“ – bitte leise sein. Das ist hart für brasilianische Fans. Denn wenn es eines gibt, das sie nicht mögen, dann ist es, leise zu sein.

Palatnik, braune Haare, roter Lippenstift, gelbes Trikot, setzt sich brav wieder hin, neben ihre Freundin Ana und deren kleine Tochter. Dann legt sie den Zeigefinger an den Mund und macht „sch“ zu den noch Jubelnden auf den Sitzen vor ihr. Sie weiß, dass es ihrem Team schadet, wenn es nicht mucksmäuschenstill ist. Brasilien hat eben das 1:0 gegen Kanada gemacht. Aber nicht beim Fußball, dem Lieblingssport der Brasilianer, nicht beim Handball oder Basketball. Die Cariocas, wie man die Bewohner Rio de Janeiros nennt, sehen gerade das erste Match ihrer Mannschaft bei den Paralympics in einer ihnen völlig unbekannten Sportart: Goalball.

Goalball ist ausschließlich paralympisch

Goalball gibt es seit 1980. Doch es ist nicht sehr verbreitet, erst recht nicht in Brasilien. Es ist ein Wurfspiel für Sehbehinderte – ausschließlich paralympisch. Und die Fans müssen noch lernen, damit umzugehen. Goalball-Spieler sind unterschiedlich stark sehbehindert und tragen undurchsichtige Augenbinden.

Für das erste Tor hatte Leomon Moreno den etwa volleyballgroßen Ball aufgenommen, sich um die eigene Achse geschwungen und ihn dann aufs Feld gedonnert. Ein Klatschen vom Aufprall, dann ein Klingeln, der Ball sprang auf die gegnerische Seite, vorbei an den drei Kanadiern, die vor ihrem neun Meter breiten Tor auf dem Boden lagen. Goal. Sechste Minute.

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Es ging ja noch gar nicht um alles in diesem Vorrundenspiel der Gruppe A, in der auch das deutsche Team spielt. Doch für die Fans war das erste Tor eine Erlösung. Für sie selbst. Denn während der Spielzeit muss völlige Stille herrschen, damit die Spieler die Glöckchen im Inneren des 1,25 Kilogramm schweren Balles hören, mit dem sie Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung des Balles ausmachen können.

Zwei Teams mit je drei Feld- und drei Auswechselspielern stehen sich auf einem neun Meter breiten und 18 Meter langen Spielfeld gegenüber. Die Tore erstrecken sich über die gesamte Spielfeldbreite und sind nur etwas über einen Meter hoch. Die Spielzeit ist zweimal zwölf Minuten.

Ruhe, bitte! Man kann es gar nicht oft genug zeigen

Es ist Lucias Palatniks erste Goalball-Match, doch sie ist gut vorbereitet. Sie kramt in ihrer Tasche und zieht ein paar Zettel heraus. „Die habe ich mir ausgedruckt“, wird sie später erklären, wenn es wieder lauter sein darf. Es sind die Regeln des Spiels. In fettgedruckten Lettern steht da, dass man vor allem leise sein muss. Daran hält sie sich. Palatnik war vor der Rente Lehrerin. Wenn sich die anderen nicht an die Regeln halten, dann weist sie sie gerne zurecht. Auch das gelbe Trikot hat sie sich extra gekauft. Brasilianische Fans machen keine halben Sachen.

Siebte Minute. Wieder ein Tor. Doch diesmal von den Kanadiern – Ausgleich zum 1:1. Anerkennendes Klatschen der brasilianischen Fans. „Wir sind nicht unfair“, erklärt Palatnik. „Wir buhen aber gerne, wenn es Strafstöße oder so etwas für die anderen gibt. Das gehört doch dazu!“ Mit einer Handbewegung wischt sie einmal durch die Luft, den Vorwurf der Unfairness beiseite. Und grinst breit.

„Be quiet, please!“, tönt es aus den Lautsprechern. Es geht weiter. An jeder Ecke vor den Tribünen stehen in gelben Shirts mit der Aufschrift „Rio 2016“ Freiwillige, die grüne lange Schilder hochhalten: „Silêncio“ steht darauf. Ruhe. Man kann es gar nicht oft genug zeigen.

Begeisterung auf Anhieb. Lucia Palatnik (l.) besucht zum ersten Mal mit ihrer Freundin Ana Carvalho und deren Tochter Maria einGoalball-Spiel – und findet gleich Gefallen.
Begeisterung auf Anhieb. Lucia Palatnik (l.) besucht zum ersten Mal mit ihrer Freundin Ana Carvalho und deren Tochter Maria einGoalball-Spiel – und findet gleich Gefallen.

© Ronja Ringelstein

Die Brasilianer bemühen sich, das Spiel anzunehmen

Katia de Lima ist eine von ihnen. Streng guckt sie auf die Zuschauerreihen, schwenkt das Ruhe-Schild. „Es ist schwer, sie zu kontrollieren“, sagt sie und nickt heftig. Ihre dunkelroten Haare wippen mit. „Wir Brasilianer müssen immer tanzen und singen. Das ist unsere Natur.“ De Lima bekommt kein Geld für ihre Arbeit in der Future Arena. Das Stadion liegt wie viele andere Wettkampfstätten im Olympic Park im Stadtteil Barra da Tijuca, wo nach Olympia nun auch das Herz der Paralympics schlägt.

De Lima musste sich fast drei Wochen Urlaub nehmen, aber das findet sie okay – sie liebt diesen Sport. Sie ist Goalball-Coach in ihrer Heimatstadt Belem. Und war dort Trainerin von Josemarcio Sousa, bevor er nach Sao Paulo wechselte. Jetzt steht er da vorne auf dem Feld und wirft sich zur Seite auf den Boden, um den kanadischen Angriff abzuwehren. De Lima ist stolz. Er fängt.

Nach dem Spiel wird sie sagen, dass Goalball so besonders sei, weil es extra für die Paralympics kreiert wurde – es sei mit nichts sonst vergleichbar. Die Brasilianer würden sich Mühe geben, das Spiel anzunehmen. „Gestern war noch viel mehr Trubel während des Spiels, heute sind sie schon braver. Sie lernen.“

Dass die Arena voll ist, ist kein Normalzustand

Das Klingeln des Balls und die Rufe der Trainer sind selbst auf den Rängen zu hören. Obwohl die 12 000 Sitze große Future Arena fast voll ist. Das ist kein Normalzustand bei den Paralympics in den ersten Tagen. Viele Leichtathleten mussten in fast leeren Stadien an den Start gehen. Eine Enttäuschung. Die Paralympics sollten in Rio de Janeiro auch ein Zeichen setzen, um Behindertensport in Brasilien voranzutreiben, in den Fokus zu rücken. Und die Gesellschaft für Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren.

Von den 2,4 Millionen Tickets waren kurz nach Start der Spiele etwa 1,7 Millionen verkauft – aber erst nach drastischen Preisreduzierungen. Die US-Handbikerin Tatyana McFadden startete vor den Spielen die Crowdfunding-Kampagne „Fill the Seats“. Die Menschen sollten Tickets kaufen, die dann brasilianische Kinder bekamen, um die Wettkämpfe besuchen zu können, die sie sich nicht leisten könnten.

Die Paralympics sind ein Familienereignis

Die Paralympics sind so zu einem Familienereignis geworden. Viele, die durch den Olympic Park schlendern und in die Arenen ziehen, sind bloß neugierig. Flavio Barros zum Beispiel. Er sitzt auf einem Zuschauerrang der Future Arena neben seiner Frau Priscilla. Sie trägt ein gelb-grünes Glitzershirt. „Die Paralympics sind toll, weil wir Brasilianer hier viel besser sind als bei Olympia!“, sagt Barros und strahlt.

Er hat sich auch viele der olympischen Wettkämpfe angesehen. Ja, es sei schon voller gewesen. Aber auch nicht überall, manche Sportarten seien eben beliebter als andere. Goalball kannte er noch nicht. Während Flavio das flüstert, macht Priscilla ein Foto von sich. Spitzt die Lippen und reißt die Augen auf. Das Spiel verfolgt sie nicht so genau. Die Stille langweilt sie ein bisschen.

Die Brasilianer können sich für alles begeistern

Lucia Palatnik ist nicht gelangweilt. Die letzte Minute der zweiten Hälfte läuft. Es steht 11:3 für Brasilien. Palatnik guckt glücklich. Abpfiff. Wieder geht eine Druckwelle durch die Ränge: „Brasil! Brasil“ – auch sie schreit wieder mit. Es war ein schöner Auftakt für sie. Auf jeden Fall wird sie sich weitere Goalball-Spiele ansehen. „Ich bin so glücklich, dass die Paralympics in Rio stattfinden“, sagt sie. „Es wird uns viel bringen.“

Sie hofft, dass die Achtsamkeit für Menschen mit Behinderungen wachsen wird. „Wir haben ein großes Problem in unserem Land: fehlende Bildung.“ Normalerweise kämen die Leute auch nie pünktlich. „Aber heute waren zum Anpfiff viele schon da“, sagt sie. Das würde doch zeigen, sie bemühen sich. „Wir sind ein sehr offenes Volk“, sagt Palatnik und rückt ihren Fan-Schal zurecht. Begeistern jedenfalls können sie sich für alles.

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