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Vor 25 Jahren wurden 96 Menschen im überfüllten Hillsborough-Stadion beim Spiel zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest zu Tode gequetscht. Danach wurden Zäune und Stehplätze in englischen Stadien abgeschafft.

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Fan-Chef Kevin Miles über Hillsborough: "Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht"

Der Geschäftsführer der englischen Fan-Vereinigung, Kevin Miles, spricht im Interview über die Lehren aus der Stadion-Katastrophe von Hillsborough vor 25 Jahren und den Kampf um Gerechtigkeit für die Opfer.

Mister Miles, am Wochenende gab es in englischen Stadien Schweigeminuten für die 96 Menschen, die am 15. April vor 25 Jahren im Hillsborough-Stadion von Sheffield ums Leben kamen. Wie haben Sie das Gedenken erlebt?

Die Schweigeminute gibt es schon seit Jahren, diesmal war es aber anders. Zum einen, weil ein Gedenktag nach 25 Jahren natürlich bedeutsamer ist als nach 23 Jahren. Und zum anderen, weil vor Kurzem eine gerichtliche Untersuchung begonnen hat, die klären soll, was am 15. April 1989 tatsächlich passiert ist.

Wieso gerade jetzt?
Die Familien der Opfer haben sich 25 Jahre lang dafür eingesetzt. Damals wurde das Ganze als „Unglücksfall“ zu den Akten gelegt. Jetzt wird alles neu aufgerollt, endlich besteht die Chance auf Gerechtigkeit.

Wie sehr ist das Trauma von Hillsborough noch zu spüren?
Für die Familien der Opfer wird sich natürlich nie etwas ändern. Wir hoffen aber, dass der Prozess wenigstens eine Art Abschluss bringen könnte. Der Schatten von Hillsborough wird uns aber noch lange begleiten.

Inwiefern spürt man die Auswirkungen in Englands Stadien heute noch?
Der Fußball hat sich durch Hillsborough komplett verändert. Das positive Vermächtnis ist, dass die Stadien keine Todesfallen mehr sind. Es gab riesige Investitionen in die Arenen. Die Sicherheit und die Art und Weise, wie mit Fans umgegangen wird, haben sich immens verbessert. Früher hat die Polizei alle Fans wie Hooligans behandelt, jetzt greift sie zwar immer noch sehr strikt durch, aber wesentlich gezielter. Es ist natürlich eine Tragödie, dass erst eine Katastrophe passieren musste, damit die Behörden die Sicherheit von Fußballfans ernst nehmen.

Hillsborough wurde oft als „vorhersehbares Desaster“ beschrieben.
Viele ältere Fans wie ich wissen: Es hätte jeden von uns erwischen können. Die Umstände von Hillsborough waren kein Einzelfall, irgendwann musste etwas Derartiges passieren. Wir hatten bis dahin unglaubliches Glück gehabt. Ich selbst war ein Jahr vorher in Tottenham, als es einen ähnlichen Vorfall gab, der aber glimpflich ausging.

Wie kam es dann doch zur Katastrophe?
Es war einfach eine Kombination vieler Dinge. Hillsborough war wie alle alten Stadien nicht nach Sicherheitsgesichtpunkten gebaut, es gab enge Eingangsbereiche, Tunnel und Treppenhäuser. Und riesige Stehplatztribünen, ohne jede Kontrolle der Zuschauerströme. Ordner und Polizei betrachteten Fußballfans als Problem – und immer als Masse, niemals als Individuen. In Hillsborough kam einfach alles zusammen. Der Einsatzleiter der Polizei betreute zum ersten Mal ein Fußballspiel, in einem Halbfinale des FA-Cups – das müssen Sie sich mal vorstellen!

Polizei, Politik und Presse gaben zunächst den Anhängern des FC Liverpool die Schuld.
Die direkte Reaktion gegenüber Fans war extrem feindselig. Das hatte nicht nur mit Fußball zu tun. Die Thatcher-Regierung hatte große Angst vor der Masse, vor großen Versammlungen von Arbeitern. Es wurden Lügen verbreitet, um diese Einstellung zu rechtfertigen. Die „Sun“ schrieb zum Beispiel, man habe im Blut der Opfer durchweg einen hohen Alkoholpegel festgestellt, Leichen sei Geld aus den Taschen gestohlen worden. Inzwischen weiß man, dass diese Berichte teilweise auf gezielten Falschinformationen der Polizei beruhten. Das war einfacher, als Verantwortung für die Vorfälle zu übernehmen.

"Margaret Thatcher hasste Fußball und Fußballfans"

Eine erste Untersuchung, der sogenannte Taylor-Report, empfahl, Stehplätze und Zäune in den Stadien abzuschaffen. Was hat sich darüber hinaus verändert?
Eine Menge, nicht alles zum Guten. Und sicher nicht nur durch Hillsborough.

Was waren andere Faktoren?
Der Start der Premier League war extrem wichtig, genauso wie die Einführung des Pay-TV. Das Publikum ist heute insgesamt älter, die Karten wesentlich teurer. Viele Leute werden in dieser Hinsicht gerne nostalgisch. Damals waren aber auch viele Dinge noch Teil der Fankultur, die ich überhaupt nicht vermisse: Es gibt heute viel weniger Gewalt und Rassismus, der Hooliganismus ist nahezu verschwunden. Alles ist wesentlich sicherer. Und ich kann eine normale Toilette benutzen, niemand pinkelt mir mehr auf die Füße. Die Atmosphäre insgesamt ist angenehmer. Ich wehre mich aber gegen die Annahme, dass sich all das geändert hat, weil nur noch Menschen mit mehr Geld ins Stadion gehen. Meine Erfahrung ist, dass Gewalt und Rassismus keine Phänomene der Arbeiterklasse sind.

Ist Fußball heute in der Mitte der englischen Gesellschaft angekommen?
1989 war es für Politiker jedenfalls ein Leichtes, Fans zu verurteilen. Heute ist Fußball schick, jeder Politiker redet darüber, welchen Klub er unterstützt. Das gilt sogar für die königliche Familie, die Queen mag angeblich West Ham. Das war früher anders, Margaret Thatcher hasste Fußball und Fußballfans.

Bereits 2012 stellte eine Untersuchung fest, dass die Fans keine Schuld an den Vorfällen trugen. Premierminister David Cameron entschuldigte sich bei den Hinterbliebenen. Trotzdem wird immer noch Gerechtigkeit für die 96 Todesopfer gefordert: „Justice for the 96“. Was kann die neue Untersuchung in dieser Hinsicht erreichen?
Bis jetzt hat niemand den Familien ehrlich gesagt, was wirklich passiert ist. Niemand hat zugegeben, dass mehr hätte getan werden können, um ihre Angehörigen zu retten. Niemand hat Verantwortung übernommen. Dafür kämpfen die Familien seit 25 Jahren, symbolisch ist das von enormer Bedeutung.

Kevin Miles, 54, ist Geschäftsführer der Football Supporters’ Federation (FSF), der Vereinigung britischer Fußball-Anhänger. Miles ist langjähriger Fan von Newcastle United.
Kevin Miles, 54, ist Geschäftsführer der Football Supporters’ Federation (FSF), der Vereinigung britischer Fußball-Anhänger. Miles ist langjähriger Fan von Newcastle United.

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Wie läuft der Prozess bislang ab?
Bevor der juristische Teil angefangen hat, konnten die Familien der Opfer kurz darlegen, wer ihre Angehörigen waren. Das hat einfach betont, dass es nicht um eine Masse geht, sondern um Menschen mit Leben, Karrieren, Hoffnungen – mit einer Zukunft. Menschen, die zu einem Fußballspiel gingen und niemals nach Hause kamen. Einige Leute sind bestimmt sehr nervös, vor allem die Polizeiverantwortlichen von damals. Viele Dinge wurden verschleiert und vertuscht. Aber jetzt, nach 25 Jahren, wird die Wahrheit ans Licht kommen.

Ihre Organisation FSF setzt sich dafür ein, dass in englischen Stadien die seither verbotenen Stehplätze wieder erlaubt werden. Welche Rolle spielt Hillsborough dabei?
Es ist sehr schwer, über das Thema zu sprechen. Immer wenn es um Stehplätze geht, wird Hillsborough als Gegenargument angeführt. Unserer Meinung nach hatte das Unglück aber nichts mit Stehplätzen zu tun. Wir würden uns aber nie für etwas einsetzen, was Fußball unsicherer machen würde. Ich möchte zurzeit nur sehr ungern über das Thema Stehplätze reden, der Jahrestag von Hillsborough ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Darum geht es jetzt nicht, es geht um die Familien der Opfer.

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