zum Hauptinhalt

20 Jahre Mordanschläge: Der Junge, der das Feuer von Mölln überlebte

Das Brandmal: Er war sieben, als er den Anschlag von Mölln überlebte, den Rassisten verübten und bei dem drei Türkinnen starben. 20 Jahre danach hat Ibrahim Arslan eine Gedenkwoche organisiert. Dabei erfährt er nicht nur Unterstützung.

Von Maris Hubschmid

Als die Feuerwehrleute das Kind entdecken, glaubt draußen auf der Straße niemand mehr, dass noch jemand zu retten ist in diesem Haus. Eng an den offenen Kühlschrank gedrückt, kauert der siebenjährige Ibrahim in der Küche, ein nasses Bettlaken um den kleinen Körper, starr vor Kälte, allein. Mehr als vier Stunden hat er dort ausgeharrt. Zwei Bilder werden ihm bleiben aus jener Nacht: Das eine ist das von Töpfen in Flammen. Jahre später noch wird er aus dem Schlaf hochfahren, schreien: „Der Topf brennt!“ Als wäre eine Unachtsamkeit beim Kochen der Auslöser für all das Leid und all den Schmerz.

Das zweite Bild ist das der wuchtigen Gasmasken der Helfer, plötzlich aufgetauchte Gestalten mit merkwürdig verzerrten, gedämpften Stimmen. „Als wenn sie von weit weg sprächen. Außerirdische, dachte ich.“

Was den Rest angeht, weiß der heute 27-Jährige nicht mehr, ob es eigene Erinnerungen sind oder er nur übernommen hat, was sich die Einsatzkräfte zusammengereimt haben. Ibrahim Arslan, Sohn einer türkischstämmigen Arbeiterfamilie, hat die Brandanschläge von Mölln überlebt, die sich an diesem Freitag zum 20. Mal jähren. In der Nacht auf den 23. November 1992 werfen die Neonazis Lars C. und Michael P. in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Molotowcocktails in zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser. Im ersten werden neun Menschen zum Teil schwer verletzt. Im zweiten, in dem Ibrahims Familie lebt, kommen drei Menschen ums Leben.

Er will, dass sich alle erinnern

20 Jahre später geht ein schlanker junger Mann in einer Möllner Sporthalle auf und ab. Ibrahim Arslan, mittelgroß, schmaler Bart, trägt ein hellbraunes Sakko und dunkle Fliege. In die Halle strömen hunderte Menschen, die bei einer Demonstration ihre Solidarität mit den Opfern rechter Gewalt bekundet haben. Gleich wird Ibrahim Arslan auf die Bühne treten, zur Moderation eines Gedenkkonzerts, für das er Musiker wie Jan Delay gewonnen hat. Er hat diesen Moment, diesen großen Rahmen lange herbeigesehnt.

Vor der Halle gucken sich zwei blonde Damen den Menschenauflauf aus sicherer Entfernung an. „Ich weiß nicht, wofür die hier protestieren“, sagt eine. „Die haben doch genug Abfindung bekommen.“

Wenn Ibrahim Arslan über das spricht, was geschehen ist, sagt er: „Damals, als wir angezündet wurden.“ Nicht mehr viele Erinnerungen hat er an das Leben, bevor er „ein Überlebender“ war. „Meine Oma ist eine starke Frau gewesen, die Säule unserer Familie.“ Sie ist es, die das Feuer zuerst bemerkt, durch Rufe die alarmiert, die in den anderen Stockwerken schlafen, ihn aus dem Kinderzimmer holt, in nasse Tücher wickelt, ihm eingeschärft haben muss, sich ja nicht vom Kühlschrank wegzubewegen. Danach rennt sie zurück, seine Schwester und seine Cousine zu wecken. Im Treppenhaus, wo das Feuer den Fluchtweg versperrt, gerät Bahide Arslan ins Stolpern, stürzt – und verbrennt. Die zehnjährige Yeliz und die 14-jährige Ayse rettet niemand mehr.

Yeliz, seine Schwester Yeliz, die ihn immer an die Hand nahm, wenn sie über die Straße gingen. Ihm von ihrem Taschengeld abgab, weil sie als Ältere mehr bekam. Yeliz, von der nur ihre Babyschuhe im Wohnzimmerregal der Eltern geblieben sind. Und Ayse, die zu Besuch aus der Türkei war, ihre Ferien in Mölln verbracht hatte und am nächsten Tag zurückfliegen sollte. „Stattdessen haben wir dann ihren Sarg zum Flugplatz gebracht.“

Die Polizei beschuldigt den Vater

Sein ganzes Erwachsenwerden über lebt Ibrahim Arslan in dem Bewusstsein, dass jemand ihnen das gezielt angetan hat. Noch während die Löscharbeiten im Gang sind, geht bei der Polizei ein Bekenneranruf ein. „Wir haben in der Mühlenstraße 9 ein Haus angesteckt. Heil Hitler!“ Dennoch passiert in den Wochen danach das Gleiche wie Jahre später im Zusammenhang mit den Morden der sogenannten Zwickauer Zelle. Die Ermittler verdächtigen den Vater. Er sitzt in Hamburg bei seinem Bruder, als ein Freund anruft: „Faruk, euer Haus brennt!“ Zum Unglücksort kommt er gerade noch rechtzeitig, um seine Tochter sterben zu sehen.

Ibrahims Mutter, Hava Arslan, die in ihrer Verzweiflung ihr sechs Monate altes Baby aus dem dritten Stock in die Arme von Nachbarn wirft und sich beim Hinterherspringen zahlreiche Knochen bricht, hat früher gut Deutsch gesprochen. Gelernt, eine Schwarzwälder Kirschtorte zu backen, wie sie nur wenigen ihrer deutschen Kolleginnen gelang. Geschockt bringt sie nach dem Anschlag kein Wort Deutsch mehr über die Lippen. „Erst vor kurzem hat sie langsam wieder angefangen.“ Sein Vater, Faruk Arslan, muss Antidepressiva nehmen. Um sich und die Eltern zu trösten, sagt Ibrahim Sätze wie: „Niemand kann den Himmel anzünden.“

Bis zuletzt will Ibrahims Großvater, Ehemann der gestorbenen Bahide, nicht wahrhaben, dass Fremdenhass seine Frau getötet hat. „Man hat uns doch hergebeten“, sagt er immer wieder. Bahide Arslan kam Anfang der 60er Jahre als Gastarbeiterin nach Deutschland, um anzupacken, wo sie gebraucht wurde. Stach Spargel in den Feldern um Ratzeburg, pflückte Erdbeeren. Am 8. Dezember 93 werden ihre Mörder zu lebenslänglich und zehn Jahren Haft nach Jugendstrafrecht verurteilt. Sie sind längst wieder in Freiheit, führen ein neues Leben mit einer neuen Identität.

Ibrahim Arslan ist ein souveräner junger Mann geworden. Er hat Einzelhandelskaufmann gelernt, ist verheiratet und Vater zweier Söhne. Er lacht viel und begrüßt Menschen, indem er weit die Arme ausbreitet. Einzig der trockene Husten lässt manche von ihnen stutzen. Sie fragen dann: Stimmt was nicht mit dir?

Jeden Tag begleitet ihn der Husten

Sieben Ärzte hat er aufgesucht, bevor einer ihm attestierte, dass der Husten traumabedingt sei und nicht behandelbar. „Am heftigsten ist es, wenn etwas angebrannt riecht.“ Der Husten nimmt auch zu, wenn er über die Nacht spricht und wenn er an den Ort zurückkehrt. Manchmal verschwindet er fast ganz: Wenn Ibrahim ins Ausland reist. Aber in Deutschland ist er geboren, hier hat er Freunde, fühlt sich zu Hause. Anders als in der Türkei, einem Land, in dem er nie gelebt hat.

Warum sie damals in der Stadt geblieben seien, werden die Arslans oft gefragt. Sie antworten: „Mölln kann doch nichts dafür.“ Sie sind froh, als die Stadt zunächst vorschlägt, das Brandhaus als Gedenkstätte wiederzuerrichten. „Es ist so wichtig für uns, dass nicht nur wir uns erinnern“, sagt Ibrahim Arslan.

Doch es kommt anders: Als das Haus saniert ist, soll die Familie, die übergangsweise im Gästehaus der Stadt einquartiert war, wieder selbst dort einziehen. Dorthin, wo Yeliz verbrannt ist, die Cousine, die Oma. „Das wollten wir auf keinen Fall.“ Doch die Arslans sind seit dem Brandanschlag auf Sozialleistungen angewiesen, und die Stadt erklärt, alle anderen Wohnungen lägen über dem Budget.

Was sollen die Arslans tun? Darüber reden, denken sie sich. Mahnen, sensibilisieren, damit so etwas nie wieder passiert. Schon früh aber drängt sich der Familie der Eindruck auf, dass nicht alle das für eine gute Idee halten. Wortbeiträge der Opfer zum Beispiel seien bei den jährlichen Kranzniederlegungen nicht erwünscht gewesen, sagt Ibrahim Arslan. Fünf Jahre dauert es, ehe eine Gedenktafel an dem Haus angebracht wird. Statt Yeliz steht da: Jeliz. „Da mussten wir für kämpfen, dass das geändert wird.“ Bis heute liest man: „Hier starben bei einem Brandanschlag ...“ Einen Hinweis darauf, dass Rassismus das Tatmotiv war, gibt es nicht.

„Ich glaube, das Problem war, dass Mölln nicht die Stadt der Brandanschläge sein wollte“, sagt Ibrahim Arslan. Mölln sei lieber die Eulenspiegelstadt. Auf den 23. November 1992 angesprochen, betonen die Bürgermeister der Stadt immer wieder: „Mölln war kein Einzelfall“. Vorangegangen waren Angriffe auf Einwandererfamilien in Hoyerswerda und Rostock, erst drei Monate zuvor hatte es auf dem Höhepunkt der Asyldebatte in Lichtenhagen ein Pogrom gegeben. Im Mai 1993 werden bei einem Brandanschlag in Solingen fünf türkische Frauen getötet. Möllns heutiger Bürgermeister sagt: „Soweit mir bekannt ist, hat sich die Stadt sehr um die Familie bemüht und ist auch bei den Gedenkveranstaltungen stets auf deren Vorschläge eingegangen. Wir tun das uns Mögliche, die Erinnerung an die schändlichen Brandanschläge wachzuhalten.“

Von den Medien fühlt er sich benutzt

Im Jahr 2000 zieht die Familie tatsächlich fort, in die Anonymität der Großstadt. Die Öffentlichkeit suchen die Männer trotzdem immer wieder. 2008 tritt Ibrahim Arslan zum ersten Mal öffentlich auf. Er sagt: „Ich bin ein Türke, und mein Herz ist voller Frieden.“ Doch der junge Mann muss erfahren, dass das Interesse an ihm oft oberflächlicher Natur ist. Vor dem Haus, in dem seine Schwester, seine Großmutter und seine Cousine das Leben ließen, fragt eine Fernsehreporterin ihn vor laufender Kamera: „Deine Tante ist gestorben. Wie geht es dir damit?“ „Vor kurzem hat mich ein Journalist gefragt, ob ich Schuldgefühle habe, weil meine Oma mich gerettet hat statt sich selbst“, erzählt er. „Auf so etwas bin ich in meinen schlimmsten Träumen nicht gekommen.“

Wenige Wochen vor dem zwanzigsten Jahrestag ist Ibrahim Arslan zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Ein Jahr nach Bekanntwerden der mörderischen Umtriebe des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Auf seine Bitte hin kommt auch Fadime Simsek, die Nichte des ersten NSU-Opfers Enver Simsek. Auf der Bühne reden sie über offenen und versteckten Rassismus, über Behörden, die ihnen das Leben schwer machen. Auch über den Fonds für Opfer rechter Gewalt, 2001 eingerichtet, der Hinterbliebene unterstützen soll. Doch Geld gibt es nur für Opfer von Gewalttaten, „die ab 1999 erfolgt sind“, erfährt die Familie auf Nachfrage.

Zehn Jahre nach dem Brand wird Ibrahim Arslan eine Opferrente des Staates gestrichen. „Mein Husten sei nicht erkennbar Folge der Brandanschläge.“ Seine Frau hat sich an den Husten gewöhnt und daran, dass das Gedenken in Ibrahims Leben einen großen Stellenwert einnimmt.

Seine Frau sagt: Lass uns damit abschließen

2007 meldet sich eine Autorin aus Berlin bei ihm: Ob er sich vorstellen könne, mit ihr ein Buch zu schreiben? „Machen wir doch einen Film“, sagt er. Vier Jahre lang begleitet die Dokumentarin die Hinterbliebenen in ihrem Alltag. Einmal kommt Ibrahims Frau zu Wort. Ihr wäre es lieber, man könne mit all dem abschließen, sagt sie. „Weil es belastend sein muss.“ Ibrahim sagt: „Das gehört zu mir.“

Knapp 20 Jahre nach dem Anschlag unterstützt ein Freundeskreis die Arslans dabei, die Gedenkfeier so zu organisieren, wie sie sich das vorstellen. Am 16. November wird im einzigen Kino der Stadt die Dokumentation „Nach dem Brand“ gezeigt. Es ist der Auftakt einer Gedenkwoche.

Viele nehmen Anteil – nicht alle

Am nächsten Tag, als sich der Menschenzug in Bewegung setzt, geht Ibrahim Arslan mit seinem jüngeren Bruder, seiner Mutter, seiner kleinen Schwester und seinem Vater in der vordersten Reihe, ein Transparent vor sich hertragend: „Ayse Yilmaz. Yeliz & Bahide Arslan.“ Vor dem Haus in der Mühlenstraße, in dem heute andere türkische Familien wohnen, legen sie eine Pause ein. „Dreh dich mal um“, sagt Ibrahim zu seinem Vater. 800 Leute sind gekommen. Die Regionalbahnen von Hamburg und Büchen waren an diesem Morgen bis auf den letzten Platz besetzt mit jungen Menschen. Faruk Arslan ist seine Rührung hörbar anzumerken, als er zum Mikrofon greift: „Ich danke euch, dass ihr hier seid. Noch nie ist die Familie Arslan so groß gewesen wie heute.“

Die Halle ist voll, es ist 16.30 Uhr, Zeit für die Eröffnung. Ibrahim Arslan nickt einem Techniker zu: Die Musik aus den Boxen verstummt. Sein Bruder knufft ihn in die Seite. „Ich komm schon klar“, sagt Ibrahim. Er hat sich alles gut überlegt. „Ich will auch ein bisschen Stimmung machen nachher. Die Leute hier sollen Spaß haben. Dann ruf ich: ‚Mölln, wo seid ihr?’“.

Wo ist Mölln? Der Bürgermeister ist im Publikum. Auf der Internet-Startseite der Stadt aber findet sich kein Hinweis auf die Gedenkwoche. Stattdessen werden eine Wildparkführung und ein Lachyogatreff beworben.

Ein Gespräch am selben Abend, unweit entfernt. Ein Mann sagt: „Unschöne Sache das damals. Es trifft ja auch immer die Falschen. – Na, dass da Kinder verbrannt sind. Unter den Ausländern sind ja auch genug Verbrecher. Ich sag mal so: Wenn man die angezündet hätte, das wär schon ein anderer Schnack gewesen.“

In dieser Stadt tritt Ibrahim Arslan 20 Jahre nach den Anschlägen auf die Bühne und sagt: „Nie vergessen. Nie wieder.“

Zur Startseite