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Jahresrückblick: Kampf mit der Natur

Beben und Fluten: So viele Tote durch Naturereignisse und Unglücke wie 2010 gab es lange nicht. 33 Bergleute überlebten: Am 13. Oktober feiert die Welt mit Chile.

Es war ein gewöhnlicher Nachmittag, kurz vor fünf, als plötzlich die Welt unterzugehen schien. Eine gefühlte Ewigkeit lang bebte am 12. Januar die Erde unter der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Gebäude stürzten ein und begruben Tausende Menschen unter sich. Etwa eine Minute später kam der Untergrund zur Ruhe und es begann eine humanitäre Katastrophe – in einem Land, das ohnehin schwer von Armut und politischen Wirren gezeichnet ist.

Im zu Ende gehenden Jahr haben Naturereignisse, Katastrophen und Unglücke wieder viele Menschen beschäftigt, auch wenn sie davon nicht direkt betroffen waren. Eine Mischung aus Anteilnahme, Schicksalsglaube und Sensationsgier garantiert hohe Einschaltquoten. Nicht zuletzt durch „Rekorde“, die schnell zur Hand sind: Jahrhundertbrände, Jahrhundertbeben, größte Ölpest der Geschichte. Mehr noch, die Fülle dramatischer Berichte vermittelt den Eindruck, dass es mehr verheerende Ereignisse gibt als früher.

Was Erdbeben betrifft, ist diese Vermutung statistisch nicht belegt. Jedes Jahr gibt es weltweit 16 starke Beben, die eine Magnitude von mindestens 7,0 haben. Mal sind es mehr, mal weniger, langfristig gibt es keine Änderung. Die Erdstöße von Port-au-Prince erreichten die Magnitude 7,0 und waren wohl heftiger als alle anderen in dieser Gegend seit 1770. Bezogen auf Haiti war es ein Jahrhundertbeben, global gesehen aber – so zynisch es klingt – nur eines von vielen.

Dennoch gibt es einen gravierenden Unterschied. Das Beben begann nah an der Oberfläche, die Erdschichten waren sehr anfällig für seismische Wellen, vor allem aber waren die Häuser labil und stürzten großteils ein. Rund 230 000 Menschen starben. „Es gibt keine Naturkatastrophen“, sagen kühle Wissenschaftler manchmal. „Es gibt nur Naturereignisse und es liegt an uns Menschen, ob daraus Katastrophen werden.“

Kein anderes Naturereignis in diesem Jahr hat auch nur annähernd so viele Leben gekostet. Die Erdbebenopfer von Haiti sind so zahlreich, dass die Statistiken für 2010 mehr als dreimal so viele „Todesopfer durch Naturkatastrophen“ führen werden als üblich. Auch die wirtschaftlichen Schäden, die Beben, Vulkanausbrüche und Stürme hinterließen, werden laut Münchener Rückversicherung überdurchschnittlich hoch sein.

Beide Zahlen, da sind sich Experten weitgehend einig, werden künftig steigen. Denn die Menschheit mit ihren wuchernden Megastädten, sensiblen Infrastrukturen und globalisierten Märkten wird immer anfälliger für Störungen, wie der Ausbruch des Eyjafjalla im April zeigte. Nicht zum ersten Mal hat ein isländischer Vulkan im Zusammenspiel mit Gletschereis gewaltige Aschewolken produziert. Meist zogen die Schwaden in Richtung Nordpol, dieses Mal kamen sie nach Europa. Rund eine Woche lang war der Flugverkehr massiv gestört, zahlreiche Passagiere und Frachtcontainer blieben am Boden. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel strandete in Lissabon und musste das Auto nehmen.

Ungleich größer sind die Folgen von Naturereignissen, die in unmittelbarer Nähe passieren. Dazu gehören Überschwemmungen, von denen besonders Zentralasien im Sommer betroffen war. Auch die Fluten in Ostdeutschland, Polen und Tschechien im August zählen dazu. Zwar waren die Dimensionen des Hochwassers hier deutlich kleiner als etwa in Pakistan, wo Millionen Menschen auf der Flucht waren. Doch weil es Länder und Leute getroffen hat, die viele von uns kennen, erschienen die Überschwemmungen in Mitteleuropa besonders dramatisch. Die Empfindung wurde verstärkt durch neue Kommunikationskanäle. Wer wollte, erhielt auf den Webseiten der regionalen Medien oder auf Videoplattformen ein sehr deutliches und umfassendes Bild der Ereignisse.

Allerdings wäre es falsch, die Überschwemmungen oder auch die Hitze in Russland allein dem Klimawandel zuzuschreiben. Das Wort steht für einen langfristigen Trend vieler Einzelereignisse. Bezogen auf kurze Zeiträume von wenigen Jahren handelt es sich zunächst um das bekannte Auf und Ab des Wetters.

Das kann im Detail recht verwirrend sein. So gab es in der diesjährigen Hurrikansaison von Juni bis November zwölf Stürme dieser Kategorie, doppelt so viele wie üblich. Davon hat aber kaum jemand etwas mitbekommen, weil die Wirbel meist vor der US-Küste abdrehten und das Land verschont blieb.

Die USA hatten dafür mit einem anderen Problem zu kämpfen: Im April explodierte die Bohrplattform „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko und sank. Es dauerte drei Monate, bis das Bohrloch am Meeresboden verschlossen war. Wie viele von den schätzungsweise 700 Millionen Litern ausgelaufenen Öls noch im Golf sind, weiß keiner. Ebenfalls unklar ist, welche Folgen das Dispersionsmittel Corexit hat, das massenhaft versprüht wurde, um augenfällige Ölteppiche auf der Wasseroberfläche zu verhindern.

Sicher ist jedoch, dass es Jahrzehnte dauern wird, bis sich die Natur wieder vollständig erholt hat. Und dass es nicht das letzte derartige Unglück gewesen sein wird. Unser Lebensstil verlangt täglich die unvorstellbare Menge von 14 Milliarden Litern Rohöl, Tendenz steigend. Solange sich daran nichts ändert, werden Vorkommen in der Tiefsee oder unter ökologisch sensiblen Gebieten zunehmend attraktiv. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es dort zu Unfällen kommt.

Der Abbau von Rohstoffen ist immer gefährlich, besonders dann, wenn Sicherheitsvorschriften lasch sind oder nicht eingehalten werden. Das mussten auch die 33 Arbeiter in der Mine von San José in Chile erfahren. Am 5. August wurden sie verschüttet. Zunächst lebten sie von winzigen Mengen Büchsenfisch und Wasser, das an den Wänden herablief, später gab es einen Versorgungsschacht. Unter großer internationaler Anteilnahme wurde eine Bohrung bis in 700 Meter Tiefe getrieben, durch die die Bergarbeiter in einer Spezialkapsel heraufgezogen wurden. Nach 69 Tagen war am 13. Oktober der letzte Minero gerettet.

Für mehr als 300 andere Bergleute in regulären Minen Chinas, Russlands und Neuseelands dagegen kam dieses Jahr jede Hilfe zu spät. Ebenso für ungezählte Arbeiter, die mit einfachsten Werkzeugen in Ein-Mann-Stollen nach Diamanten oder Rohstoffen für die Elektronikindustrie gegraben hatten.

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