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Hochwasser: Der Fluss, der Feind

Sie hatten gesagt, das komme nie wieder: die Flut des Jahrtausends. Doch die Experten haben sich geirrt. Wieder versinkt Grimma im Wasser, und in Passau wird ein Rekord gebrochen.

Die Frau steht am Fenster. In der ersten Etage. Von dort hat sie einen Logenblick auf versunkenes Land, auf die Wasserlandschaft, in die sich ihre Nachbarschaft verwandelt hat. „Kommen Sie schnell ins Boot“, ruft ihr ein Feuerwehrmann zu. „Das Wasser steigt weiter. Es gibt dann keine Rettung mehr.“ Seine Kameraden gestikulieren heftig, winken und sprechen in allen Tonlagen. Doch die Dame in der Mühlenstraße bleibt skeptisch. Plötzlich zeigen sich zwei Kinder am Fenster. Jetzt will das Feuerwehrkommando erst recht nicht aufgeben. „Seien Sie vernünftig“, bittet der Anführer. Schließlich antwortet die Frau mit einem Kopfnicken.

Wenig später sitzt sie mit ihrer 14-jährigen Tochter und ihrem 11-jährigen Sohn im Feuerwehrboot. „Wir wollen bei unserer Schwester unterkommen“, sagt sie. Und sie lächelt dabei, erleichtert, auf der sicheren Straße außerhalb des Zentrums von Grimma zu stehen, das im schlammigen Wasser der Mulde versinkt. „Mein Mann hält noch die Stellung in unserer Wohnung. Er will nicht weg.“

Grimma ist eine Kleinstadt bei Leipzig, 30 000 Menschen leben hier, aber Berühmtheit erlangte der Ort vor allem, weil es in ihm vor etwas mehr als zehn Jahren schon einmal genauso aussah. Bei dem „Jahrtausendhochwasser“ 2002. Auch damals holten Feuerwehr, Katastrophenschutz und Polizei die Bewohner in der von der Mulde überfluteten Altstadt aus ihren Häusern. Zwingen konnte man sie damals ebenso wenig wie heute. „Ich bin herzkrank“, sagt ein 89-jähriger Mann, der sein Haus am Montagmittag verlassen muss. „Warum nur werden wir immer wieder so heimgesucht? Es ist ein Jammer.“ Er wischt sein Gesicht trocken, das nass ist vom Regen und seinen Tränen.

Im Feuerwehrzentrum an der Umgehungsstraße tagt unterdessen der Krisenstab. Der parteilose Oberbürgermeister Matthias Berger wirkt angespannt. Ohne Unterlass muss er Gespräche führen. „Es wird fast so schlimm wie 2002“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Damals schossen pro Sekunde 2700 Kubikmeter Muldenwasser durch die Stadt. Diesmal liegen wir mit 2200 Kubikmetern nur knapp darunter.“

Also wieder ein „Jahrtausendhochwasser in Sachsen“? Hatten die Experten nicht prophezeit, dass das so schnell nicht wieder kommen würde? „Das ist alles nicht mehr zu fassen.“ Sein Ärger wird gleich aus zwei Quellen gespeist. Zehn Jahre hat der Wiederaufbau der Grimmaer Innenstadt nach dem letzten Hochwasser gedauert. „Sie war schöner denn je geworden. Ein richtiges Schmuckstück“, sagt der Oberbürgermeister über seine Stadt. „Jetzt versinken nicht nur eine halbe Milliarde Euro in den Fluten, sondern vielleicht auch der Wille vieler Einwohner, die ganze Arbeit noch einmal von vorne zu beginnen.“ Hoffentlich, so sagt er, erhalte die Stadt auch diesmal wieder so viele Spenden wie vor zwölf Jahren.

Mit Hochwassern ist das so eine Sache. Wenn es viel regnet, versickert das Wasser nicht mehr im Erdreich, sondern läuft ab in die Flüsse und Seen. Deren Pegel steigen, bis der Mensch plötzlich merkt, wo er sich angesiedelt hat. Das ist seit Jahrhunderten so. Doch an manchen Orten sind die Menschen besser vorbereitet als an anderen.

In Passau haben sie Erfahrung mit Hochwasser.

In Passau zum Beispiel haben sie Erfahrung mit Hochwassern, denn die kommen immer wieder. Die Stadt liegt im Dreiländereck, nahe Österreich und Tschechien, in ihrer historischen Mitte fließen Donau, der mächtige Inn und die kleine Ilz zusammen. In normalen Zeiten kann man die Flüsse an der unterschiedlichen Farbe des Wassers erkennen.

Doch auch hier wird jetzt von der „Jahrhundert-Katastrophe“ gesprochen. Am Vormittag war der Pegelstand von 12,20 Metern erreicht. So hoch war der Fluss zuletzt im Jahr 1954, und das war ein Hochwasser, an das sich viele Passauer lebhaft erinnern. Am Abend waren es schon 12,80 Meter, gar 13 wurden erwartet. Es wäre ein Rekord, für den Stadthistoriker bis weit ins Mittelalter zurückgehen müssten, um einen Vergleich zu finden. Normal sind vier bis fünf Meter.

Der Passauer Oberbürgermeister Jürgen Dupper, ein Mann der SPD, ruft dazu auf, mit dem Trinkwasser sparsam umzugehen. Die Altstadt mit dem St.-Stephans-Dom ist abgesperrt. Man käme sowieso nicht hin, das Wasser schwappt mal einen halben Meter hoch, mal einen oder auch zwei. „Die Leute sind meistens bei Verwandten oder Freunden untergekommen“, erzählt ein Feuerwehrmann. Oder sie haben ihre Wohnung in den oberen Stockwerken.

Es gibt keine Verletzten und keine Toten, niemand wird vermisst. Viele Leute laufen mit Gummistiefeln umher. In den Einkaufszentren direkt vor der gefluteten Altstadt gehen die Passauer shoppen, als wäre nichts außergewöhnlich daran, und vielleicht ist es das auch gar nicht. Obwohl es in den kleineren Läden nahe dem historischen Stadtteil keinen Strom mehr gibt. Die Biobäckerei Wagner zum Beispiel verkauft im Halbdunkel ohne elektrisches Licht.

Zumindest akustisch aber befindet sich die Stadt im Ausnahmezustand. Feuerwehrsirenen heulen permanent auf, Polizeiautos patrouillieren durch die Straßen. Hubschrauber knattern über der Flutzone, Helfer vom Roten Kreuz und der Feuerwehr stehen an allen Orten. „Seit Samstag schleppe ich Sandsäcke“, berichtet Bernhard Maier. Er sieht ziemlich unausgeschlafen und auch etwas verdreckt aus. Maier hat einen Hausmeisterservice, muss für die Objekte alles tun, was man noch tun kann. Und geht auch den anderen Helfern zur Hand, wenn es nötig ist. „Gestern musste ich 70 Kilometer Umweg fahren“, erzählt Maier, die Fluten hätten die üblichen Wege unpassierbar gemacht.

Heinz Steil und seine Frau haben sich so weit an den Fluss herangewagt, wie es eben geht, um mit der kleinen Digitalkamera Fotos zu machen, ab und zu wagen sie sich noch ein Stückchen weiter, gehen mit den Schuhen ein wenig hinein ins Wasser. Ein rüstiges Rentnerpaar. „Ich bin ja in Passau geboren“, sagt Heinz Steil und zeigt auf das Wasser, das einem wie der Amazonas erscheint. „Das geht einem schon zu Herzen.“

Die Steils wohnen nur 200 Meter weiter weg, in der Nacht ist ihnen der Heizungskeller vollgelaufen. Heinz Steil erzählt, wie er versucht habe, den Raum mit Säcken zu sichern. Aber es half nichts. Er mag den Fluss, gerne geht das Ehepaar an seinem Ufer spazieren, sitzt auf den Bänken mit Blick auf den Strom. „Ich liebe die Donau, aber wenn man das sieht, kommen einem schon Zweifel.“

Die Donau wird es auch weiterhin geben - Passau auch.

Aber die Donau wird es auch weiterhin geben, und Passau auch, und Menschen wie die Steils sowieso, die ein wenig erschrocken sind, aber die Dinge eben zu nehmen wissen. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich, wo der Fluss kleiner ist und die Stadt auch, ärgern sie sich umso heftiger. Natürlich habe Grimma nach der Katastrophe vom Sommer 2002 Konsequenzen gezogen. Eine mehr als einen Kilometer lange Mauer entlang der Mulde sollte den Fluss dauerhaft in seinem Bett halten. „Doch die ist leider erst zur Hälfte fertig, Das Hochwasser ist einfach viel zu früh gekommen. Deshalb koche ich förmlich vor Wut“, meint Stadtoberhaupt Matthias Berger.

Elf Jahre für einen halben Kilometer Sicherheit? Tatsächlich wollte sich Grimma mit einem ziemlich einmaligen Schutzsystem gegen alle drohenden Überschwemmungen wappnen. Zwölf Meter ragen die Mauern in die Tiefe, um das Eindringen von Grundwasser in die Stadt zu verhindert. Gegen den Flutpegel sollte eine ein Meter hohe Barriere schützen. Etwa 40 Millionen Euro wurden für die mit dem Denkmalschutz abgestimmte Konstruktion veranschlagt. Schließlich sollte der mittelalterliche Charakter der Stadt nicht beeinträchtigt werden. Aber allein das für so einen Bau notwendige Genehmigungsverfahren zog sich über zwei Jahre hin. Die Behörden mussten sich mit zahlreichen Einsprüchen privater Grundstückseigentümer beschäftigen. Das kostete Zeit.

Der Name „Jahrtausendhochwasser“ trug außerdem nicht gerade zur Beschleunigung bei. Man wähnte sich in trügerischer Sicherheit. Das soll den Sachsen nicht noch einmal passieren. Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) versprach bei seinem Besuch in Grimma am Nachmittag eine „Änderung im Gefüge“. Privatinteressen dürften bei Hochwasserfragen nicht mehr über dem Gemeinwohl stehen, sagte er.

Von den etwa 2000 Menschen, die ihre Häuser im Zentrum verlassen haben, die meisten davon mehr oder weniger freiwillig, sind einige in einer Halle in einem höher gelegenen Stadtviertel untergekommen. Die meisten Betroffenen haben aber auch hier bei Verwandten und Bekannten Zuflucht gefunden. „Es ist einfach traurig, wie alles im Wasser versunken ist“, sagte eine Frau, die nach dem Hochwasser 2002 zum zweiten Mal ein Restaurant in der Altstadt eröffnet hatte.

Allein 800 Kameraden der freiwilligen Feuerwehr aus der Stadt und ihrer Umgebung kämpften gegen die nicht enden wollenden Wassermassen. „Ihre Arbeitgeber sind diesmal sehr aufgeschlossen und stellen ihre Mitarbeiter problemlos frei“, zeigt sich der Oberbürgermeister am Ende des Tages doch noch etwas zufrieden. „Was Hochwasser bedeutet, wissen inzwischen alle.“

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