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Liebe Redaktions-Kollegen: Elisabeth Binder und Lothar Heinke

© Kai Uwe Heinrich

25 Jahre Deutsche Einheit: Als unsere Berufswege sich trafen

Journalismus im Osten war ganz anders als im Westen. Was die Tagesspiegel-Redakteure Elisabeth Binder und Lothar Heinke voneinander gelernt haben.

Lieber Lothar,

das Zusammenwachsen zweier Länder, zweier Stadthälften, zweier Systeme hautnah und live mitzuerleben, habe ich oft als Privileg empfunden. Es war eine echte Überraschung zu entdecken, dass es im Sozialismus Menschen wie Dich gab – charmant und lebensfroh und gar nicht so komplett anders, wie ich das immer gedacht hatte. Heute weiß ich, dass auch wir Wessis im Kalten Krieg Ziele von Propaganda waren. Die DDR war ein sehr fremdes Land für Menschen meiner Generation, die in Westdeutschland aufgewachsen waren und keine persönlichen Bezüge hatten. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass einige meiner heute liebsten Freunde dort lebten. Dass es einmal so sein würde, war zu Mauerzeiten unvorstellbar. Nach ihrem Fall und der raschen Wiedervereinigung gab es so viel zu lernen. Dass Karriere nicht alles ist zum Beispiel, dass es viele andere Aspekte des Lebens gibt, die der Aufmerksamkeit und Pflege bedürfen. Nie in meinem Leben habe ich so viele attraktive Frauen gesehen, wie in der Zeit, als wir uns ein Büro teilten und Du ständig Besuch bekamst.

Am Anfang hast Du uns immer wieder verblüfft. Damals, Anfang der 90er Jahre, waren manche Themen total tabu für eine seriöse Zeitung. Völlig unbefangen wolltest Du über eine Sexmesse schreiben und verstandest unser Entsetzen gar nicht: „Ich dachte, das wäre ein freies Land“, sagtest Du kopfschüttelnd. Du warst Deiner Zeit wohl einfach ein bisschen voraus. Mit Dir kamen andere Kollegen, die den Beruf unter völlig anderen Umständen ausgeübt hatten.

Plötzlich gab es Befindlichkeiten, ja, auch mal Tränen. Es war eine Zeit der Überraschungen, der Werteanpassungen. Der Typus patente Ost-Frau, der mit allen Wendungen des Lebens auf schnoddrig-realistische Weise fertig wurde, geriet schnell zu einem neuen Idol. Sicher gab es viele Menschen, die von der Wende hart getroffen waren. Aber es gab, das hat mich bei neuen Freunden immer wieder überrascht, auch eine kreative, fantasievolle Art, auf das Leben zuzugehen. Immer mal wieder beobachte ich an den Anfang 20ern, dass vieles, was heute selbstverständlich ist, durch Euch in diese gemeinsame Gesellschaft eingebracht wurde.

Damals wirkte manches wie eine Einbahnstraße, als hätte nur der Westen etwas zu geben, die D-Mark, die Demokratie, den Ehrgeiz, den Kapitalismus, der vieles eben auch zerstört. Heute sehe ist, dass manche menschlichen Tugenden, die eine Gesellschaft zusammenhalten, den umgekehrten Weg gegangen sind.

Liebe Elisabeth,

danke für die Blumen! Es freut und überrascht mich, wie Du die Dinge siehst. Für mich war „der Westen“ nie fremd. Wir hatten Verwandte und Freunde, die nichts auf ihr halbes Deutschland kommen ließen, wohl aber auf jene Haudraufs, die taten, als sei die zivilisierte Welt am Brandenburger Tor zu Ende und Eisenhüttenstadt läge schon in Sibirien. Vielleicht wurde unser Interesse „am Westen“ durch die Sehnsucht genährt, dass eine vernünftige Einigung mit unseren Brüdern und Schwestern irgendwann einmal möglich wird, vielleicht war es auch die Hoffnung, von den Diktatoren des Proletariats und ihrem Kaderwelsch nicht vollends vereinnahmt zu werden. Dass das am Ende dazu führte, dass der Westen den Osten geradezu überrollte und sich nicht einmal die Mühe machte, zu überlegen, was man „von denen da drüben“ lernen oder gar ins neue Deutschland mit übernehmen könnte, war der (west-)deutschen Siegermentalität geschuldet. Wir hatten immer gewitzelt, dass der Kapitalismus natürlich im Sterben lag, „aber in Schönheit und sehr, sehr langsam“.

Davon konnte sich dann ab 1990 jeder überzeugen. Alles war plötzlich neu und anders. Die im Westen rümpften die Nase, weil ihnen das Trabbi-Auspuff-Gemisch stank, aber für sie änderte sich so gut wie nichts. Den Osten überkam die Einheit wie ein Tsunami, der vieles mit sich riss, Betriebe, Häuser, Straßennamen und Existenzen. Das war der zweite Teil der „Revolution“.

Der Zugewinn glich das nicht immer, aber im Laufe der Jahre immer mehr aus. Man beargwöhnte sich nicht mehr, sondern hörte einander zu. Man korrigierte Vorbehalte, und jeder stellte irgendwann fest: Dieses plötzliche Zusammensein ist keine fremde Last, sondern eine Bereicherung für alle. Nicht nur, weil man endlich auch mal zur Weinlese an die Loreley fahren konnte, sondern weil es plötzlich diese neue Dimension gab: Niemand hatte mehr Angst vor politischer Schieflage, und wir Schreiber schrieben, wie es uns in den Sinn kam. Die Schere im Kopf war weg.

Aber welche Wirkung hatte das freie kritische Wort? Man konnte noch so sehr gegen den Abriss vom Palast der Republik wettern – das Echo war gleich null. Dafür hat man neue nette offene Menschen wie Dich kennen- und mögen gelernt, auch Autisten, die verschreckt aufblickten, wenn man ihnen einen guten Tag wünschte. Heiner Müller spöttelte vor 25 Jahren, dass „zehn Deutsche dümmer sind als fünf“. Ach, Heiner. Schade, dass Du nicht mehr das Gegenteil erlebst.

Elisabeth Binder und Lothar Heinke arbeiten beide im Tagesspiegel.

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