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Das Brexitvotum und die Folgen waren Thema bei Anne Will.

© daserste.de/Tsp

Anne Will zum Brexit: Wer erklärt denn nun den Austritt?

Rätselraten nach dem Referendum: Anne Will diskutierte mit ihren Gästen über das Nein von der Insel, eine "sehr hässliche Fremdenfeindlichkeit" in "Kleinbritannien" und viele Vorurteile.

Von Caroline Fetscher

Jetzt hat das schon angefangen, zuerst mal in den Medien: Massive Investition von Zeit in ein kontraproduktives Projekt mit dem Namen „Brexit“. Am Sonntagabend auf ARD versuchten Anne Wills Talkshowgäste den ersten Schock über Großbritanniens Scheidungswunsch zu verarbeiten. So geht das los.

So wird das weitergehen. Abertausende von Arbeitsstunden werden Leute gezwungen sein, den Brexitus umzusetzen. Der Irrsinn dieser Eurosion wird Beamte in hunderten von Behörden beschäftigen, Zöllner, Postämter, Finanzexperten, Industrielle, Akademiker, Touristen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Militärs, Kartographen, Ausweishersteller und ungezählte mehr.

„Großbritannien sagt Nein - Wer sagt jetzt noch Ja zu Europa?“ Mit einem Thema dieser Dimension sollten es innerhalb einer knappen Stunde eine Handvoll Gäste aufnehmen, die dann jedoch lebhaft und ernsthaft diskutierten. Zur Runde gehörte die Juristin Anna Firth von der britischen Regierungspartei der Konservativen, deren Premier - und Brexit-Gegner – David Cameron die fatale Befragung angesetzt hatte. Firth gehört mit ihrer Brexit-Kampagne „Women-for-Britain" zu den Parteispaltern auf der Insel.

Unverhohlen kritisch Anne Wills erste Frage an die Frau: „Wie glücklich sind Sie über das, was Sie da angerichtet haben?“ Firth im weißen Blazer über rosa Top, gibt sich Mühe, abwiegelnd und gutbürgerlich zu wirken. Sie sei zufrieden, „oh, yes“, sie glaube das britische Volk werde nun „ein demokratischeres System“ bekommen, „mehr demokratische Kontrolle“.

Ihr Landsmann, Sir Peter Torry, früherer Botschafter Großbritanniens in Berlin, zeigt sich traurig über diesen „Schiffbruch“, traurig für sein Land, seine Kinder und Enkel, erinnert an die Risiken des Brexit für die Wirtschaft und den Mangel an Modellen des Brexit-Lagers. Seine Hoffnung, das Land wieder zusammenzubringen, Generationen, Milieus, Landesteile, alles klafft auseinander.

„Schade“ findet es von der Leyen, dass die gemeinsame Erfolgsgeschichte der EU hier „mit den Füßen getreten wurde“, und prophezeit ebenfalls ökonomische Schäden, auch für London als Finanzplatz: „Es ist für uns alle ein Schaden“ – und besonders schade, dass die Älteren den Jüngeren ihre Zukunft beschädige.

Firth verteidigt sich und versucht nach Kräften, die EU schlechtzureden, besonders nach Maastricht sei vieles aus dem Ruder gelaufen. Das Argument mit der Spaltung in Alt und Jung lässt sie nicht gelten – solche Spaltungen gebe es immer bei Wahlen. Dass Schottland sich verabschiedet, sieht Firth nicht voraus.

Wenn EU-Parlamentarier vor allem ans eigene Land denken

An die „sehr hässliche Fremdenfeindlichkeit“ der Brexit-Kampagne erinnert als erster Rolf-Dieter Krause, Leiter des ARD-Studios Brüssel, der im August in den Ruhestand geht, und dieses Beben am Ende einer erfahrungssatten Karriere erlebt. Noch sei die Hoffnung nicht verschwunden, dass sich doch noch etwas bewegen könnte im Vereinigten Königreich, dem „Kleinbritannien“.

Richard Sulík, Europa-Abgeordneter aus der Slowakei, entlarvt mit seinen ersten Sätzen den Kernmangel der nationalen EU-Politiken – er sei im Europaparlament, „um die Interessen der Slowakei zu vertreten“, erklärt er. Großes Verständnis hat er für die EU-Skeptiker und -Gegner und deren Misstrauen gegen die europäischen Eliten, an denen es liege, dass der Brexit attraktiv wurde.

Von der Leyen kann das „in keiner Form nachvollziehen“ und wird erfrischend konfrontativ. Ob Herr Sulik den als Parlamentarier nicht auch Elite sei? Wo denn sein konstruktiver Beitrag zur EU bleibe? Sie erhält Applaus im Saal – das Pauschalklagen kommt hier beim Publikum nicht gut an. „Die Stärken Europas herausstellen, an den Schwächen arbeiten“, das müsse der Weg sein, erklärt von der Leyen unter erneutem Beifall.

Nein heißt Nein, kein Verschleppen, Verzögern

Freizügigkeit! Darin sahen die Brexiter in Hauptproblem. Angst wurde geschürt von dem Ankommen von Migranten, einer zu wenig kontrollierten Massenmobilität von Menschen – vor allem auch aus den anderen EU-Staaten – die ins Gesundheits- und Sozialsystem einwandern wollten, und gegen die in der an Lügen und Verzerrungen reichen Nein-Kampagne gehetzt wurde.

Das Thema schürt ein britisch-britisches Wortgefecht zwischen Torry und Firth, die behauptet, Xenophobie habe für ihre Kampagne keine Rolle gespielt - gewiss, bei Nigel Farage, dem rechtsradikalen Ukip-Führer, schon, doch keineswegs bei ihr.

Krause weist darauf hin, dass die Eile der Briten jetzt, nach dem Votum, offenbar viel geringer sei als vorher, und eine freundlich-strenge von der Leyen erklärt, es müsse nun „zügig“ vorangehen. Kurz: Nein heißt Nein, kein Verschleppen, Verzögern. Cameron will bis Oktober warten, andere in Großbritannien wünschen sich sogar einen Schritt zurück. Eingeblendet wird auch der kleinlaut wirkende Boris Johnson, Kopf der Anti-EU-Kampagne, wie er am Tag danach „keine Hast“ anmahnt, was Will zur zentralen Frage des Abends bringt: „Kann es sein, dass sich gar keiner findet, der den Austritt erklären will?“  Das Publikum ist amüsiert, und Peter Torry erklärt, in der Tat müsse das Parlament zustimmen, in dem 80 Prozent gegen den Austritt sind. Ob es aber politisch möglich wäre? Das wagt hier niemand zu prophezeien.

"Viel Glück" für Resteuropa

Prototypisch für viele Stimmen im aktuellen Osteuropa scheint der slowakische Gast mit seinem Sammelsurium an Vorbehalten gegen eine vermeintliche europäische Suprematie. Von der Leyens Rede über die funktionierende Friedenssicherung in Europa beeindruckt Richard Sulik nicht, ohne dass er benennen kann, was er - außer nationalem Egoismus - als Alternative zu bieten hat. Nicht anders Anna Firth, die Resteuropa „viel Glück“ wünscht. Die Schlussrunde scheint entschieden: Es wird zum Brexit kommen – nur Krause hat noch optimistische Zweifel.

Wie werden die Talkshows aussehen, in ein, zwei Jahren, wenn nicht doch der Exit aus dem Brexit wahr wird? Wird man Regretlinge und Ex-Brexitisten zu hören bekommen („Damals wollte ich nur der Regierung eins auswischen!“), Verschwörungstheoretiker („Der Brexit wäre toll verlaufen, wenn man uns keine Steine in den Weg gelegt hätte…“) – und dergleichen mehr. Im Moment tröstet nur der Funke Optimismus, den Rolf-Dieter Krause mitbrachte, immerhin ein Kenner der Materie, die „Europa“ heißt.

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