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Können Füße nicht lügen? Ludwig Blaschke (Charly Hübner, links), Elisabeth (Katharina Lorenz) und Max (Noah Kraus) beim Abdruck fürs erbbiologische Gutachten

© WDR/Martin Menke

Aus Verlust wird Versöhnung: Die lange Flucht zu sich selbst

Dem ARD-Film „Der verlorene Bruder“ gelingt eine Vergangenheitsbewältigung mit Ironie und Melancholie.

Kommen jetzt, wo die Flüchtlinge nach Deutschland kommen, die Flüchtlingsdramen ins deutsche Fernsehen? Stehen wir vor der Geburt der Flüchtlingsfiktion? Selbst wenn es so wäre, müsste darüber einer verzweifeln, gar wütend werden?

Der ARD-Film „Der verlorene Bruder“ reicht weit zurück, ins Jahr 1960 der Bundesrepublik. Die Blaschkes, Vater Ludwig (Charly Hübner) und Mutter Elisabeth (Katharina Lorenz), sind 1945 mit einem Treck aus den deutschen Ostgebieten vor den Russen geflohen. Ihr erster Sohn Arnold ging dabei verloren. Ein Trauma, das die Blaschkes mit dem Aufbau einer wirtschaftswunderlichen Existenz in Versmold/Westfalen zu überwinden suchen. Ludwig Blaschke will seine Versagens- und seine Schuldgefühle vergessen machen – neue Autos, Plattenspieler und Fernseher sollen dabei helfen.

Frau lässt Mann nicht aus der Vergangenheit raus

Seine Frau lässt ihn aber nicht raus aus der gemeinsamen Vergangenheit. Ihr verlorener Sohn ist ihre Obsession, umso mehr, als sie erfährt, dass am selben Tag, an dem Arnold verschwand, ein Findelkind aus dem Flüchtlingstreck in einem Waisenhaus abgegeben worden ist. Was jetzt mit allen Mitteln und unter allen Umständen bewiesen werden muss: dass sie und Ludwig die Eltern von Findelkind 2073 sind. Flucht als Trauma mit Schuld und Scham, Suche als Tilgung von Scham und Schuld, Finden als Erlösung von Schuld und Scham. Vielleicht immer, vielleicht überall.

Was die Eltern wollen, das will Max (Noah Kraus) nicht. Er, der zweitgeborene 13-jährige Bruder. Max steht am Rande der elterlichen Wahrnehmung, ihm ist klar, dass er noch weiter vom Zentrum wegrücken wird, sobald der verlorene Arnold wieder auftaucht. „Als toter Bruder war er mir lieber gewesen“, sagt Max, nicht zu seinen Eltern, sondern als Erzählerstimme. Ruth Toma hat die autobiografische Erzählung „Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel ins Drehbuch übersetzt: In der Vorlage kommentiert Max – wie abseits stehend – das Geschehen, im Film ist er Protagonist, der findig bestrebt ist, die Suche nach seinem Bruder scheitern zu lassen.

Und so schlüpft aus dem Wirtschaftswunder- und Flüchtlingstraumafilm ein weiteres, ein universales Thema: Max’ „Angst, von den Eltern nicht wahrgenommen zu werden, weil bei ihnen jemand anderes oder etwas anderes im Mittelpunkt steht“, wie Drehbuchautorin Toma im Presseheft schreibt. Von den größeren Jungens wird Max verprügelt, die schöne, kesse Nachbarstochter (Flora Li Thiemann) beachtet ihn nicht. Max ist in seiner Familie wie in seiner Umgebung mehr der Statist. Da ergreift er die Initiative: Max will sich seinen Platz in der Welt erobern.

Das Süße wird nicht kitschig, das Bittere nicht salzig

Das könnte mit beträchtlicher Schwere, mit herausgestelltem Leid, mit ordentlich Mollton erzählt werden. Worauf das Süße kitschig und das Bittere salzig wird. Passiert dem Film nicht, er wählt die Tragikomödie als Transportmittel. Da gibt es die Loriot’schen Momente, wenn der in Elisabeth verliebte Polizist Frank Rudolf (Matthias Matschke) eine sehr zwischenmenschliche Szene mit der Frage „Möchten Sie noch ein Streichwurstbrot?“ abwürgt, wenn die Tante Josepha (Johanna Gastdorf) die Familie und insbesondere Max mit fundamental christlichen Einlassungen traktiert. Nicht zu vergessen auch, wie die westfälische Provinz in der Bundesrepublik 1960 in ihrer Enge wiederaufersteht, aber darüber nicht verraten wird. „Der verlorene Bruder“ ist keine Denunziation von Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder.

Regisseur Matti Geschonneck sagt, „es ist ein den Menschen zugewandter Film, der trotz seiner Melancholie Hoffnung macht“. Den Menschen in ihrer Zeit, es gibt keine Rückblenden ins dramatische Fluchtgeschehen, was zwischen ihnen passiert ist, das steht jetzt zwischen ihnen. Da ist Innigkeit zwischen den Eheleuten, Ernsthaftigkeit, Härte, das Wissen um die unvollständige Familie. Katharina Lorenz und Charly Hübner lassen ihre Figuren schwanken. Lorenz gibt der Mutter ätherische Entschlossenheit, Hübner seinem Lebensmittelhändler aktionistische Entschlossenheit. Und Noah Kraus als Sohn Max ist schier eine Sensation, mal launiger Kommentator, mal Pechvogel, mal schlauer Protagonist. Und Matthias Matschke setzt als Polizist und Frauenversteher die Kontrapunkte zum innerfamiliären Geschehen, die das Publikum heiter stimmen können.

Was sich darüber und mit den Bildern von Kameramann Theo Bierkens zusammenfindet, ist ein mehr beiläufig erzählter Mikrokosmos, keine Studie, keine Geschichtsstunde bundesdeutscher Nachkriegszeit, es ist ein episodisches Erzählen von Schicksal, das vielerorts unerzählbar geblieben ist.

„Der verlorene Bruder“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15

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