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Medien: Big Mother

Ich sehe mir keine Fernsehserien an. Dazu fehlt mir einfach die Zeit - ich bin ein vielbeschäftigter Mann, lese auch gern einmal ein gutes Buch, gehe gelegentlich ins Kino, und diese Serien, machen wir uns nichts vor, sind in der Regel das Allerletzte.

Ich sehe mir keine Fernsehserien an. Dazu fehlt mir einfach die Zeit - ich bin ein vielbeschäftigter Mann, lese auch gern einmal ein gutes Buch, gehe gelegentlich ins Kino, und diese Serien, machen wir uns nichts vor, sind in der Regel das Allerletzte. Noch schlimmer ist es jedoch, wenn sie gut sind, denn dann will man ja vernünftigerweise weiter gucken, anstatt die Abende mit selbst ernannten "Freunden" zu verbringen und sich ihr wichtigtuerisches Gerede anzuhören (wobei man häufig genug Alkoholika in nicht unerheblichen Mengen konsumieren muss). Wenn man über fünfzig ist (Anfang fünfzig), sage ich mit diesem wehmütig selbstironischen Lächeln, dann beginnt die Phase zwei unseres Lebens, da heißt es mit den Beständen rechnen und das Ende bedenken: carpe diem, sowieso.

Deshalb erinnere ich mich auch genau daran, wie ich im März letzten Jahres bei einer so genannten Freundin in die Falle ging. Zum Abschluss eines interessanten und durchaus niveauvollen Abends machte sie den Fernseher an, und da war auf einmal dieser stämmige Mann, in dessen Swimmingpool eine Entenmutter mit ihren Jungen herumpaddelt, und der etwas vulgäre, irgendwie auch verschlagen und fast brutal aussehende Mann ist bezaubert von den Enten. Er schaut sie mit den großen Augen eines Liebenden oder eines Kindes an, und als er sie nach einigen Tagen fortfliegen sieht, bricht er ohnmächtig zusammen.

So beginnen "Die Sopranos", und mir war schlagartig klar, dass ich einen schweren Fehler gemacht hatte. Es ging mir wie seinerzeit Kafkas Landarzt: Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen. Ich erzähle das so ausführlich, damit diejenigen, denen ihr Leben zu kostbar ist, als dass sie es mit irgendwelchen medialen Konserven aus amerikanischen TV-Beständen vergeuden wollen, gewarnt sind. Denn das Verhängnis besteht nicht nur darin, dass ich damals den dreizehn Folgen der Serie hilflos ausgeliefert war, ohne Chance auf einen selbst bestimmten Ausstieg, sondern dass demnächst die zweite Staffel bei uns gezeigt wird (die vierte wird gerade gedreht).

Um meiner Warnung die nötige Frische zu geben, habe ich mir die ersten dreizehn Folgen als Video gekauft und jetzt noch einmal am Stück angesehen. Meine Erinnerung hat mich nicht getrogen: Um dieser Serie zu widerstehen, muss man einen stählernen Charakter haben oder ein Volltrottel sein; als normaler Mensch, auch wenn man wie ich das Abitur und sogar das Große Latinum hat, ist man verloren. Denn "Die Sopranos" sind ein perfides Meisterwerk, vor dem fast alle kulturellen Errungenschaften der letzten Jahre verblassen, einschließlich des politischen Tanztheaters und des Arte-Themenabends. Anders gesagt: Wenn Coppolas "Paten"-Trilogie fürs 20. Jahrhundert ist, was Wagners "Ring" fürs 19. war, so sind die "Sopranos" die Fortsetzung des "Paten" im Sinne des Marxschen Bonmots, dass große weltgeschichtliche Tatsachen sich zweimal ereignen, als Tragödie und als Farce. Der Corleone-Oper folgt die Soprano-Soap.

Tony Soprano hat ein Problem, ach was: Er hat viele Probleme. Die große Zeit der Mafia ist vorbei, auch in diesen Kreisen herrscht Werteverfall. Niemand will sich mehr ans Schweigegebot halten und dafür lebenslänglich in den Knast gehen; lieber lässt man sich vom FBI ehrlos verkabeln, packt aus und wird im Zeugenschutzprogramm einer postkriminellen Existenz zugeführt. Selbst als Don einer der fünf Familien ist man nicht mehr der finstere König eines dunklen Reiches, und Tony ist kein New Yorker Don, sondern der Zweite Mann in New Jersey (das ist ungefähr so, als würden Sie statt des Hamburger Autokennzeichens "HH" ein "WL" führen, was Winsen an der Luhe bedeutet). Und sein Capo ist krank, Krebs im Endstadium. So etwas stiftet Unruhe, denn einer muss bekanntlich das Sagen haben, und das hätte gerne Junior, Tonys Onkel. Der war immer nur das Helferlein, erst von Tonys Vater, jetzt von Tony, und das macht ihn rasend.

Das Hauptproblem ist aber Tonys Mutter. Jeder, der eine Mutter hat, weiß, dass sie großartig und unverzichtbar ist, einem manchmal aber auch ein bisschen auf die Nerven geht - und ich spreche hier von der normalen, der guten Mutter. Livia ist jedoch keine gute Mutter. Sie ist boshaft und depressiv; sie kann zwar nicht mehr alleine zu Hause leben, aber jede Haushaltshilfe ekelt sie fort. Der teuerste und feinste "SeniorenRuhesitz", den Tony ihr schmackhaft machen will, ist für sie ein unzumutbares Altengefängnis. Das Angebot von Tonys Frau, bei ihnen zu wohnen, weist sie brüsk zurück: Sie wisse, wann sie nicht willkommen sei. Wo sind wir hier eigentlich? In der Senioren-Soap "Abendleuchten auf Immenhof" oder in einer Mafiaserie? Die Genauigkeit, mit der die Beziehung zwischen Tony und Livia entfaltet wird, ist jedenfalls ganz ungewöhnlich, nicht nur fürs dumme Fernsehen. Wann habe ich einen Roman gelesen, der ähnlich subtil, mit so viel Schärfe, Bosheit und Komik das Mutter-Sohn-Verhältnis dargestellt hätte?

Das ist einer der Gründe für die Qualität der Serie: Sie zieht ihre Kraft aus dem Glutkern unser aller Existenz - der Beziehung zur Mutter. Auch Tony Soprano, der sich normalerweise gut zu wehren weiß, ist den Kränkungen und Zurückweisungen durch seine Mutter schutzlos ausgesetzt. Als er nach seinem Zusammenbruch, der als "Panikattacke" diagnostiziert wird, eine psychotherapeutische Behandlung beginnt, bekommt er jedes Mal einen Wutanfall, wenn seine Ärztin etwas Kritisches über seine Mutter sagt.

Diese Sitzungen, in denen fokussiert wird, was Tony erlebt hat, bilden die Grundlage der Serie; ein Kunstgriff, der es ermöglicht, die naturgemäß gewaltreiche Mafia-Existenz zu zeigen und gleichzeitig auf Distanz zu halten. Tonys verharmlosender Bericht, den er seinem Shrink gibt ("Ich habe ihn dann um Rückzahlung seiner Schulden gebeten"), wird mit den Bildern der Wirklichkeit konfrontiert (Tony schlägt den Schuldner zusammen) - und das ist sehr komisch und sehr schrecklich.

David Chase, Schöpfer und Regisseur der "Sopranos", hatte eine simple Idee: Um eine bemerkenswerte Mafiaserie zu machen, muss man die Höhepunkte des Genres - die Filme von Coppola und Scorsese - überbieten. Der "Pate" schildert, dass die "Familie" (aber auch die Familie), die sich als Antithese zur Welt begreift, in Terror und Mord endet: Um die Familie zu schützen, lässt der Don seinen eigenen Bruder umbringen. Chase aber zeigt uns etwas noch Schrecklicheres: eine Mutter, die ihren Sohn töten lassen will. Und wenn Scorsese in "Goodfellas" und "Casino", mit deutlicher Anspielung auf Coppola, der Romantisierung der Mafia sein Bild von Brutalität und Gemeinheit entgegensetzt, so geht Chase auch hier einen Schritt weiter, in dem er nicht das Infernalische, Überlebensgroße des Mobs, sondern das Schäbige, Lächerliche, Spießige dieser Killer in Adidasklamotten hervorhebt. "Die Sopranos" sind weder romantisierende italienische Oper noch apokalyptisches Kinoepos. Es ist nur eine ordinäre TV-Soap.

Daher ist es durchaus angemessen und entspricht der inneren Logik solcher Serien, formal und inhaltlich, dass wir Zuschauer uns amüsieren, wenn wir Tony und seinen Spießgesellen bei ihrem Treiben zusehen. Denn so ganz anders ist deren Leben nicht als das unsere, höchstens eine Idee alberner: "Cunnilingus und Psychiatrie sind an allem schuld", genau. Und dann erstarren wir, wenn diese lächerlichen Figuren, die wir fast ein wenig liebgewonnen haben, einen Mord begehen.

In einer der besten Folgen sehen wir ausführlich und ohne distanzierende Komik, wie Tony einen Mann mit einem Draht erdrosselt - entsetzlicherweise verliert er nicht unsere Sympathie. Das ist ein schreckliches Wunder, und es ereignet sich nur, weil James Gandolfini so ein überirdisch guter Schauspieler ist. Die ganze Serie funktioniert nur, weil alle Schauspieler so überwältigend gut sind, dass man kaum seinen Augen trauen mag.

Ein weiterer Grund (und es wären noch viele anzuführen, wollte man das Geheimnis der Serie aufdecken) besteht darin, dass jede knapp einstündige Folge in etwa vierzig Szenen aufgeteilt ist. Eine Szene dauert also nur gut eine Minute, und dadurch entsteht eine Geschwindigkeit, die einen fortreißt. Man braucht eigentlich nur eine großartige Geschichte, grandiose Schauspieler, brillante Kamera- und Schnittarbeit, und schon hat man, wenn einem dann auch noch das Glück hold ist, eine Serie von der Qualität der "Sopranos". Wer jetzt aber meint, ich würde hier große Töne spucken, muss ja nur am 5. Januar um 23 Uhr das ZDF einschalten. Möge niemand sagen, er sei nicht gewarnt worden!

Kurt Scheel

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