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Booklet: Genuss und Analyse

Baltimore ist nicht Deutschland: Eine neue Berliner Schriftenreihe widmet sich dem Phänomen der US-Qualitätsserien und wirft auch wieder die Frage auf, warum hierzulande so etwas wie die "Sopranos" kaum zu produzieren ist.

Ein 40-jähriger Mann, am Wendepunkt seines Lebens. Aufruhr in der Ehe, Aufruhr im Beruf, Kinder im Teenager-Alter, Druck eines jeden Mannes seiner Generation. „Der einzige Unterschied ist, er ist der Mafiaboss des nördlichen New Jerseys. Ach ja, und er ist in psychologischer Behandlung.“ So charakterisierte Richard Plebler, Ko-Präsident von HBO, dem amerikanischen Bezahlsender, die HBO-Erfolgsserie „Die Sopranos“. Die über sechs Staffeln erzählte Geschichte einer italo-amerikanischen Mafiafamilie in New Jersey, die hierzulande im ZDF lief, begründete in der vergangenen Dekade den Ruhm der Qualitätsserien aus Übersee. Diese haben mit ihrer Architektur aus Staffeln, Episoden, Plots, Subplots, Bögen und Zugängen dem Kino langsam den Rang abgelaufen. „Six Feet Under“, „The Wire“, „Mad Men“, es ist in Feuilletons viel geschrieben worden über das Phänomen US-Serie in der Nachfolge des epischen Romans à la Tolstoi. Weiteren medienwissenschaftlichen Background liefert nun die Schriftenreihe „Booklet“ aus dem Berliner Verlag Diaphanes.

Allen voran Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen, der am Mittwochabend im Berliner HBC-Club sein Büchlein über „The Sopranos“ vorstellte, zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Daniel Eschkötter, der sich der Krimiserie „The Wire“ angenommen hat. Lacan, Foucault, immanente Soziologie – es wirbelt bei der Lesung nur so vor postmoderner Begrifflichkeit. Im Grunde lässt sich das Thema auf wenige Fragen herunterbrechen: Was fasziniert an US-Serien, gerade den europäischen Zuschauer? Was verbindet die Formate, vom Krimi über Fantasy zum Melodram? Immer wieder die Frage: Wieso gibt es keine deutsche Serien solchen Formats? Für Diederichsen sind die „Sopranos“ avancierte kulturindustrielle Produkte, die gezielt für mehrere Zuschauerperspektiven gemacht sind. Dies sei wohl der Punkt, wo die „viel beschworene deutsche und europäische Provinzialität am gravierendsten ist. „Es ist gar nicht die mangelnde Bereitschaft, so etwas wie Qualitätsserien zu denken, wenn deren Geheimnis nur darin bestünde, eine Fernsehproduktion etwas sorgfältiger, weniger hanebüchen und nicht ganz ohne jedes Wissen um zeitgenössische kulturelle Üblichkeiten zu produzieren“. Es sei das absolute Unverständnis dafür, dass ein relevantes zeitgenössisches Kunstwerk, dessen Resonanz nicht auf die Welt der Trottel oder der Gebildeten beschränkt bleiben wird, nicht dadurch entsteht, dass man den großen Individualismus der Qualität anruft, sondern indem man patchworkartig verschiedene gesellschaftliche Perspektíven vernähe.

Einer, der das in Deutschland gut hingekriegt hat, ist Dominik Graf mit seinem Zehnteiler „Im Angesicht des Verbrechens“. Der Regisseur und Autor setzt im Herbst denn auch die „Booklet“-Reihe fort: mit einem Beitrag über „Homicide“, einer Serie über die Arbeit einer Polizeiabteilung in Baltimore. Moderator Bert Rebhandl fügte hinzu, vielleicht ist ganz Deutschland ereignisärmer als Baltimore, wo „The Wire“ spielt. Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Viele Fragen für neue „Booklets“. Markus Ehrenberg

Diedrich Diederichsen: The Sopranos.

Simon Rothöhler:

The West Wing.

Daniel Eschkötter:
The Wire. Diaphanes Booklet, Berlin 2012.

Alle jeweils zehn Euro.

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