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Medien: „Da hört die Neutralität auf“ ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn zur Berichterstattung über die US-Präsidentschaftswahlen

Mehr als 80 Prozent der Deutschen wünschen sich die Abwahl von Präsident Bush. Vielleicht auch deshalb, weil man so wenig über den Kandidaten Kerry erfahren hat?

Mehr als 80 Prozent der Deutschen wünschen sich die Abwahl von Präsident Bush. Vielleicht auch deshalb, weil man so wenig über den Kandidaten Kerry erfahren hat?

Nein, ich glaube, das liegt daran, dass George Bush einseitig einen Krieg erklärt hat. Das können Deutsche nicht verstehen.

Aber auffällig ist: Man hat sich, auch im Fernsehen, sehr stark mit Bush beschäftigt, aber nur wenig mit Kerry.

Ja, und das ist auch in Amerika so. In den Umfragen ist die Wahlentscheidung zwar offen, aber Bush hat einen massiven Rückhalt bei seinen Wählern, während Kerry für seine Wähler nur ein Verlegenheitskandidat ist.

Wie neutral kann die Berichterstattung sein, wenn das Publikum – und die Journalisten selbst – eine so klare Position haben?

Ich kenne tatsächlich nur wenige Kollegen, die sich nicht wünschen, dass Kerry Präsident wird. Dabei geht es nicht um die besseren Argumente, sondern um Weltanschauungen, um kulturelle Unterschiede, auch in den USA selbst, und da hört die Neutralität auf. Dennoch muss die Berichterstattung fair bleiben.

Deutsche Fernsehsender betreiben einen hohen Aufwand zur US-Präsidentenwahl. Ist das Ausdruck einer wachsenden Konkurrenz im Informationsbereich?

Es ist vor allem Ausdruck des gewachsenen Interesses. Gore gegen Bush im Jahr 2000 hat die Deutschen nicht elektrisiert. Unser Ehrgeiz ist, dass man im Ersten in der Nacht zum 3. November am allerschnellsten erfährt, wie die Entscheidung ausfällt.

Aber Sie haben nicht Thomas Gottschalk, der in der ZDF-Wahlnacht auftreten wird.

Nein, der ist mir aber bisher auch nicht als US-Korrespondent aufgefallen.

Die letzte Wahlnacht in den USA war im Grunde ein Desaster. Auf welche Zahlen greift die ARD diesmal zurück?

Wir werden den ganzen Tag über von einem privaten Institut, das auch für die großen amerikanischen Networks arbeitet, mit Teilergebnissen aus Wahlbefragungen beliefert. Wenn das Wahllokal geschlossen wird, muss man entscheiden: Reichen die Befragungen, um ein Ergebnis zu verkünden? Acht Punkte Unterschied sind schon nötig. Bei 52:48 würde ich mich nicht auf eine Umfrage verlassen. Dann muss man warten, bis tatsächliche Ergebnisse hereinkommen.

Also entscheidet jeder Fernsehsender selbst, wann er die Wahlmänner eines Staates der Seite Bushs oder der von Kerry zurechnet?

Ja, die US-Networks haben dafür große Stäbe. Wir sind in Kontakt mit unserem Partnersender ABC, also werden wir dessen Empfehlungen wohl auch übernehmen. Allerdings sage ich nicht ohne Stolz: Im Jahr 2000 haben wir länger als alle US-Sender am Ergebnis in Florida gezweifelt.

Im Grunde ist es offen, wie die Nacht läuft. Welcher denkbare Fall bereitet Ihnen am meisten Kopfzerbrechen?

Dass wir um zwei Uhr wissen, wer es wird. Das fände ich langweilig. Darauf sind wir zwar auch vorbereitet, aber dann kommt vieles aus dem Archiv. In mehr als der Hälfte der US-Staaten schließen die Wahllokale um drei Uhr nachts unserer Zeit, darunter auch in den wohl entscheidenden Staaten Florida und Pennsylvania. Das ist die spannendste Zeit. Wenn das Ergebnis um drei Uhr nicht feststeht, kann es eine Hängepartie werden.

Das Gespräch führte Thomas Gehringer.

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