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Medien: „Dann gnade euch Gott“

Film über Selbstmorde aus Furcht vor Roter Armee

Adelheid Nagel steht auf dem Massengrab, in dem auch ihre Mutter beerdigt liegt. Es ist nur eine wild wuchernde Wiese, kein Stein oder Kreuz erinnert an die Toten. Der Ort befindet sich heute in Polen. Am 31. Januar 1945, kurz bevor die Rote Armee einrückte, töteten sich hier im damaligen Wildenhagen/Ost- Brandenburg mindestens 80 Frauen und Kinder. Das heißt, die Kinder wurden von ihren Müttern und Großmüttern getötet, aus panischer Angst vor den russischen „Untermenschen“, die ihnen die NS-Propaganda jahrelang eingebläut hatte. Auch Adelheid Nagels Mutter legte der damals Zehnjährigen selbst den Strick um den Hals. Stunden später wurde das Mädchen als einzige Überlebende eines Massenselbstmords von 15 Frauen auf dem Dachboden eines Bauernhauses befreit – von russischen Soldaten.

Autorin Carmen Eckhardt hat für die Dokumentation „Die Nacht von Wildenhagen“ ein weitgehend verdrängtes Thema aus der Zeit der letzten Kriegsmonate recherchiert. Zehntausende Menschen nahmen sich im Osten das Leben, um nicht der Roten Armee in die Hände zu fallen. Die Wahnsinnstat des Ehepaars Goebbels, das alle Kinder im Führerbunker mit in den Tod nahm, hatte sich in Wahrheit schon tausendfach zuvor ereignet. Kindern wurden die Kehlen und Pulsadern durchgeschnitten, sie wurden erschossen, in Säcke gesteckt und ertränkt, ehe sich die Eltern das Leben nahmen.

Dieses furchtbare Kapitel aus dem untergehenden Nazi-Reich wird von Carmen Eckhardt behutsam geschildert. Nicht die plakative Suche nach Schuld, sondern nach einer Erklärung für das Unfassbare steht im Vordergrund. Eckhardt begleitet neben Adelheid Nagel noch zwei weitere Frauen, die die Ereignisse als Kinder miterlebt haben, ins ehemalige Wildenhagen. „Wir hatten die Angst, es kommen Menschenfresser“, erinnert sich Elfriede Müller an die Stimmung im Ort. Doch nicht nur die abstruse NS-Propaganda, für die die Autorin eindrucksvolle Beispiele gefunden hat, auch die Angst vor Rache habe eine Rolle gespielt. Ihr Onkel, Soldat an der Ostfront, habe auf Heimaturlaub berichtet: „Wenn die Russen euch nur die Hälfte von dem antun, was wir den Russen angetan haben, dann gnade euch Gott.“

Den Vernichtungsfeldzug der Deutschen, später die Vergewaltigungen und Plünderungen durch die Rote Armee, all das verschweigt Carmen Eckhardt nicht. So werden die Geschehnisse von Wildenhagen nachvollziehbar eingebettet in die historischen Zusammenhänge. Aber wer Adelheid Nagel von der Nacht in Wildenhagen erzählen hört, für den bleiben die Kindstötungen und Massenselbstmorde doch, was sie wohl immer bleiben werden, unfassbar.

„Die Nacht von Wildenhagen“: WDR, 21 Uhr

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