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Medien: Das Flut-Lexikon

Schneller als jedes Geschichtsbuch: wikipedia.de

„Erdbeben im Indischen Ozean 2004“ – so lautet der nüchterne Titel eines der letzten Einträge von Wikipedia. Wo früher Jahre vergangen sind, bis große Ereignisse in die Geschichtsbücher gelangten, findet sich das katastrophale Seebeben in Südostasien bereits nach wenigen Tagen in einem Internet-Lexikon, das so gleichzeitig zu einer wichtigen aktuellen Informationsquelle im täglichen Nachrichtenjournalismus oder im Alltag vieler Schulen geworden ist.

Dass das Online-Lexikon Wikipedia derart schnell, aber auch kompetent und umfassend auf ein Ereignis reagieren kann, hat einen besonderen Grund: Wikipedia entsteht anders als die meisten übrigen Nachschlagewerke in keinem Verlag, sondern als Gemeinschaftswerk der Internet-Gemeinde. Jeder, der sachkundig ein Thema erschließen kann, ist aufgerufen, dies in Wikipedia zu tun – ehrenamtlich, denn das nichtkommerzielle und werbefreie Wikipedia kennt keine Entlohnung. „Über aktuelle Ereignisse zu schreiben, übt einen besonderen Reiz aus“, sagt Kurt Jansson, erster Vorsitzender von Wikipedia Deutschland. „Die übrigen Themen leiden darunter aber keineswegs. Die hohe Aufmerksamkeit, die Wikipedia durch Themen wie die Flut oder auch die Lkw-Maut erhält, motiviert vielmehr auch die anderen Autoren“, sagt der Soziologie-Stundent. Das Wiki-Prinzip beruht auf den Grundsätzen des „Open Contents“ und ist so organisiert wie die Zusammenarbeit bei der freien Linux-Software. Und noch erfolgreicher: Rund 120 000 Besucher werden täglich auf den deutschen Seiten gezählt.

Die Auflistung der Opfer nach Staaten, wie viele Touristen der einzelnen Nationen noch vermisst werden, die tabellarische Chronik des Bebens – die sachliche Darstellung der Katastrophe ist eine Herausforderung an die Autoren, bei denen es sich eben nicht um professionelle Lexika-Macher handelt, sondern in der Masse um gut informierte Internet-Nutzer, die ihr Wissen auf Wikipedia zusammenfassen, zugleich zur Diskussion stellen, um dann zu einer möglichst umfassenden und neutralen Darstellung zu gelangen. Im Durchschnitt wird jeder Beitrag über sieben Mal geändert, bevor er seine endgültige Form gefunden hat.

Obwohl dieses System eines ständig im Wandel befindlichen Online-Lexikons noch sehr jung ist – die erste englische Fassung entstand im Januar 2001, die deutsche folgte wenige Monate später im Mai – ist der Umfang von Wikipedia erstaunlich: So umfasst die Wissensdatenbank Wikipedia-Gründer Jimmy Wales zufolge mehr als 130 Millionen Wörter. Dies ist mehr als der „Brockhaus“ und die „Britannica“ zusammen bieten. In der deutschen Version stehen über 180 000 Einträge bereit, die von rund 100 000 Autoren erstellt werden. Als Kontrollinstanz fungieren zudem einige hundert „Administratoren“.

Die Flut in Südostasien gilt als Jahrhundertkatastrophe. Wikipedia hat dazu die Opferzahlen anderer Erdbeben gestellt. Über eine Million Menschen starben demnach beim großen Beben in Ägypten und Syrien im Jahr 1201. Auch das zwanzigste Jahrhundert wurde von Beben heimgesucht, denen mehrere hunderttausend Menschen zum Opfer fielen. In den Jahren 1920 und 1927 starben bei zwei Beben in China jeweils mehr als 200 000 Menschen und das Beben im chinesischen Tangshan mit über 250 000 Opfern von 1976 liegt weniger als drei Jahrzehnte zurück, wie Wikipedia erinnert.

Wichtiger als der geschichtliche Überblick ist aber die lange Link-Liste am Ende des Beitrages. Wo findet man Informationen zu den betroffenen Hotels und Resorts, zu Suchlisten und wichtigen Online-Diskussionsforen, die sich in diesen Tagen vornehmlich der Katastrophe in Südostasien annehmen? An wen kann ich mich mit Spenden wenden? Auch diese Listen mit Verweisen zu anderen Internet-Seiten werden täglich ergänzt und aktualisiert. Darum müssen sich auch die Leser von Wikipedia darüber bewusst sein, „dass es sich bei unseren Beiträgen nicht um abgehangene Lexika-Einträge, sondern um aktuelle Ereignisse handelt“, sagt Kurt Jansson. „Wenn Lehrer Wikipedia im Unterricht einsetzen, sollten sie darum auch immer darauf hinweisen, dass man mit Texten aus dem Internet grundsätzlich kritisch umgehen sollte.“ Ein Blick in die Diskussionen zu jedem Thema zeigt zudem, wie kontrovers die Erstellung eines Beitrages sein kann. Zur Flut umfasst die Diskussionsseite 24 Unterpunkte.

Das Lexikon im Internet:

www.wikipedia.de

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