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Medien: Der große Sog

Von Stephan A. Weichert Selbst Fußball-Laien konnten sich der Sogwirkung des WM-Spektakels kaum entziehen: Ronaldo, Kahn & Co.

Von Stephan A.

Weichert

Selbst Fußball-Laien konnten sich der Sogwirkung des WM-Spektakels kaum entziehen: Ronaldo, Kahn & Co. waren fast überall zugegen, zumindest televisuell gesehen: in den Straßen von Mitte, wo sich Menschen in Eckcafés um kleine Fernseher scharten und nach jeder Parade Oli Kahns einander zuprosteten; in der gesamten Kreuzberger Nachbarschaft, wo Deutsche und Türken in ein einziges Kreischkonzert ausbrachen, sobald Top-Torjäger Miroslav Klose auf das brasilianische Tor zustürmte, dribbelte – und stolperte.

Als gestern die beiden Finalisten Deutschland und Brasilien gegeneinander antraten, saß die halbe Welt vorm Fernseher. Bei weit über einer Milliarde Zuschauern ist die Fußballweltmeisterschaft das globalste Live- Ereignis, das die Mediengesellschaft im Programm hat. Fußball-WM – das ist ein Ausnahmezustand. Die Autobahnen sind leer, die Kneipen voll, und in den Medien ist von nichts anderem die Rede: Am Abend nach dem Finale verkündet die „Tagesschau“ sogleich als Erstes, dass Deutschland heute wohl verdienter Fußball-Vizeweltmeister 2002 geworden sei.

„Are only bad news good news?“ Mitnichten! Knapp zehn Monate nach den schrecklichen Fernsehbildern des Terrors vom 11. September, die sich in unser historisches Gedächtnis eingegraben haben, haben derlei sportive Großereignisse mit Rausch-Faktor Konjunktur. Nachdem lange Zeit weder laut gelacht noch gedacht werden durfte, ist das TV-Weltpublikum ausgehungert nach Spaß, es ist dankbar für Ablenkungen aller Art. Und weil das Trauma der weltweiten Terrormeldungen immer noch da ist, und – glaubt man den täglichen Warnungen der US-Geheimdienste – sogar berechtigt ist, denn die Gefahr ist noch lange nicht ausgeräumt, kommt da eine Fußball-WM gerade recht.

Vielleicht macht Fußball schneller vergessen. Auf jeden Fall verbindet er – behauptet der Volksmund. Ja und Nein, sagt die Medienereignisforschung. Aus deren Blickwinkel lassen sich Fußballweltmeisterschaften den so genannten Contests zuordnen. Dazu zählen andere internationale Sportwettkämpfe, etwa die Olympischen Spiele, Wimbledon und die Formel 1 ebenso wie Fernsehübertragungen von politischen Konkurrenzkämpfen, beispielsweise die kommende Bundestagswahl und das lang ersehnte Schröder-Stoiber-Duell. Dieser Ereignistyp ist – folgt man dem soziologischen Herrschaftsmodell von Max Weber – rational legitimiert. Soll heißen: Dem zeitlich begrenzten Ereignis liegt ein vorher festgelegtes (Spiel-) Regelwerk zugrunde, das die jeweiligen Kontrahenten bereitwillig durch ihre Teilnahme anerkennen. Der Wettkampf wird fair, nämlich „Mann gegen Mann“, ausgetragen, wobei dem Verlierer, anders als im Krieg, gleich von vornherein eine zweite Chance zugestanden wird.

Dem Fernsehzuschauer fällt entweder die Rolle eines Schiedsrichters zu, der über die Einhaltung der vereinbarten Regeln wacht. Oder er ist Sympathisant und Parteigänger, also jemand, der sich, wie fast immer in Sport und Politik, mit einer der rivalisierenden Parteien oder Nationen identifiziert. Das Fernsehen verhält sich bei solchen Gelegenheiten hingegen neutral, heizt aber die Rivalität der beiden gegnerischen Seiten an, indem es Hintergrundinformationen über die Spieler liefert. Damit fördert das Fernsehen die Identifikation des Publikums mit der jeweiligen Herkunftsnation, was kulturell integrierende, manchmal polarisierende Wirkung zeigt, je nachdem, ob die eigene Mannschaft gerade führt oder verliert. Bei einem weltweit immer populärer werdenden Sport wie Fußball ist das aufkeimende nationale Wir-Gefühl auch nicht verwunderlich: Die Einheit eines Staates wird ständig medial demonstriert: indem die Nationalhymnen ertönen oder Symbole wie Flaggen, Banner und die Landesfarben regelmäßig auf den TV-Bildschirmen wiederkehren.

Die Fußballweltmeisterschaft im Fernsehen sorgt zweifellos dafür, dass die dribbelnden Helden von heute – ob sie nun Ballack, Chun-soo oder Mansiz heißen – bei den Zuschauern ein Heimatgefühl wachrufen, das nicht nur türkische und deutsche Fußballfans in Berlin einträchtig miteinander feiern lässt. Der unschuldige Patriotismusgedanke, der während eines Fußballspiels entsteht, erinnert sie daran, dass sie ein gemeinsames Zuhause haben.

Fußball verleiht einem globalen Millionenpublikum vielleicht so etwas wie eine interkulturelle Identität, die die Welt in Zeiten des Terrorkrieges wieder näher zusammenrücken lässt.

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