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Medien: Der Wind des Wechsels

ARD-Geschichtsessay in Bildern über die Wendejahre

Es scheint so, als gäbe es eine Erotik des Untergangs. Die Macht schwächelt, und Freiräume wachsen. Der Rückzug des alten Machtapparats erfolgt wundersam gewaltfrei. Nicht unangenehm dieser Zustand des Herbstes 89, aber vorübergehend. Während das Leben im Osten so interessant wird wie nie zuvor, geht auch der Zerfall des Staatswesens weiter. In Moskau begreift man das wohl zuerst und gibt die DDR schon zu einer Zeit auf, als viele Bürgerrechtler noch von einer ostdeutschen Perestroika träumen. Hinterher wird klar, Geschichte ist das, was mit uns passiert, während wir dabei sind, Zukunftspläne zu machen.

Der 89er Aufbruch findet mitten im Staatsuntergang statt. Der Aufbruch ist echt, der Untergang aber auch. Irreversibel geworden ist er durch die Maueröffnung vom 9. November. Inmitten der allgemeinen Auflösung spielen sich seltsame Szenen ab. Auch Tragödien, aber noch mehr Komödien. Die tragikomischen Lebensverwicklungen von November ’89 bis März ’90 zeigt uns der erste Teil der dreiteiligen MDR-Dokumentation „Damals in der DDR. Freiheit ohne Grenzen“. Ein oft variiertes Thema, dessen mancher inzwischen überdrüssig ist. Aber Reinhard Joksch und Karsten Laske filmen beherzt gegen jedes Klischee an. Da wollen es zwei wirklich wissen, wie es damals war, und diese Neugierde überträgt sich schließlich auch auf den Zuschauer. Am Ende wird aus der Dokumentation ein Geschichtsessay in Bildern.

Wir sehen zuerst die, die die Grenzöffnung am ganz falschen Ort trifft. Bis eben bestbezahlte ostdeutsche Elitearbeiter an der russischen Erdgastrasse, wissen sie plötzlich, wo sie hier sind: eben in Sibirien. Aber auch die, die mit ihren Zweitaktern die bayerische Waldluft verschmutzen, kriegen wohl einiges in ihrer Begrüßungsgeld-Euphorie nicht mit. Die ersten Tage erscheint ihnen der Westen wie der wahre Kommunismus, alles gibt es für sie umsonst. Dann aber beginnen sie doch irgendwie zu stören. Sie sind einfach viel zu viele. Nach der Maueröffnung bestimmt nicht mehr der Runde Tisch, sondern die Masse erzwingt Entscheidungen.

Die Wiedervereinigung wird ab Januar 1990 ausschließlich als eine Angelegenheit westdeutscher Innenpolitik behandelt. Harte DM schafft blühende Gemeinwesen, hören wir Helmut Kohl rufen. Mit dieser nicht ganz falschen, aber ungewohnt nüchternen Art, die Dinge zu sehen, müssen sich die erst mühsam arrangieren, die einen historischen Augenblick lang geglaubt haben, sie seien das Volk. Oder anders: Freiheit ohne Grenzen ist eben eine Illusion.

„Damals in der DDR“: ARD, 21 Uhr 50

Gunnar Decker

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