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Medien: Die Biologie des Bösen

Was passiert im Hirn von Gewalttätern? Eine Dokumentation bringt unser Weltbild durcheinander

In Handschellen spaziert Stephan W., ein kräftiger, phlegmatischer Kerl, zum Kernspintomographen. Der Mann, der einst Priester werden wollte, hat einen elfjährigen Jungen brutal missbraucht, hat eine Frau niedergeschlagen, ist verurteilt worden – doch statt seine Strafe im Gefängnis abzusitzen, sitzt er in der Psychiatrie, wird behandelt, untersucht. Im Kernspin, einer großen weißen Röhre, durchleuchten Psychiater der Universität Regensburg Stephan W.s Hirnwindungen. Sie fahnden nach der Biologie des Bösen.

Entstehen Verbrechen im Gehirn? Diese Frage stellt der Dokumentarfilm „Der Sitz des Bösen“ von Tilman Achtnich. Man sieht die Hirnschnitte von Raubmördern, Vergewaltigern, Schwerverbrechern. Zum Beispiel die Schnitte von Ernst Wagner. 1913, Wagner hat seine Frau und seine vier Kinder ermordet – und neun weitere Menschen erschossen. Und doch wird der Mann nicht hingerichtet. Die Gerichtspsychiater erklären ihn für „nicht zurechnungsfähig“. Wenn aber jedes Verbrechen aus dem Geflecht neuronaler Verschaltungen resultiert, müsste man dann nicht alle Mörder für unzurechnungsfähig erklären?

„Bei Mördern findet man immer einen starken Antrieb und sehr häufig hirnorganische Störungen, die alle darauf hindeuten, dass sie nicht frei gehandelt haben“, sagt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. Er könne sich durchaus vorstellen, die Erkenntnisse über die Hirne von Schwerverbrechern auch prophylaktisch zu nutzen: Wenn man eines Tages im Scanner das Killerhirn eindeutig identifizieren könnte, was, fragt der Hirnforscher, wäre dann so schrecklich daran, die Risikokandidaten zu überwachen? Zum Schutze der Gesellschaft.

Noch sind diese Visionen pure Science-Fiction. So ist es nach wie vor unmöglich, Verbrecher im Vorfeld zu erkennen. Zwar ist es den Psychologen gelungen, aus der Masse gewöhnlicher Krimineller einen besonders gefährlichen Typus herauszufiltern – „Soziopath“ genannt. Und eine Studie des kalifornischen Hirnforschers Adrian Raine demonstriert: Das Stirnhirn von Soziopathen ist kleiner als normal. Da das Stirnhirn dazu da ist, spontane Impulse zu kontrollieren, glaubt man, dass Soziopathen mit ihrem geschrumpften Stirnhirn regelrecht enthemmt sind. Für Verbrechen.

Aber eben nicht nur für Verbrechen. Was die Dokumentation nicht thematisiert: Auch unter Künstlern und, wie ein soeben erschienenes Buch des kanadischen Kriminalpsychologen Robert Hare („Gewissenlos“, Springer 2005) nahe legt, unter Managern gibt es häufiger Soziopathen. Sie schlagen sich ganz ohne körperliche Gewalt bis an die Spitze der Gesellschaft. Ein enthemmter Maler wie Dalí oder Picasso oder ein nicht allzu zimperlicher Börsenspekulant zum Beispiel kann sehr erfolgreich sein.

Auch wenn der Film die Forschungsergebnisse meist nicht weiter hinterfragt, beleuchtet er die Verbrecherseele von vielen Seiten. In Zürich setzen Forscher Soziopathen in eine Achterbahn-Simulation. Wo normale Testpersonen anfangen zu schwitzen, da bleibt der Soziopath kühl. Ein Soziopath ist weniger ängstlich als andere Menschen. Strafen schrecken ihn nicht ab, „weil er nicht vorwegnehmen kann, welche unangenehmen Folgen er bei der Strafe durchleiden würde“, sagt einer der Züricher Wissenschaftler.

An diese Gefühlskälte heranzukommen, sie zu ändern, daran knabbern die Psychotherapeuten bis heute. Stephan W.s Therapeutin weiß nicht, wie lange die Behandlung dauern wird, drei Jahre, zehn Jahre. Die neurologischen Narben sitzen tief und sind nicht nur genetisch bedingt, weil man sie im Hirn teilweise sichtbar machen kann. Ob er selbst meint, je wieder friedlich in der Gesellschaft leben zu können? Stephan W. seufzt. Er zögert lange. „Ja“, sagt er schließlich.

„Der Sitz des Bösen“, ARD, 23 Uhr

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