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Medien: Die Schweiz in „20 Minuten“

Das Gratisblatt hat die meisten Leser, Kaufzeitungen wie die „NZZ“ bleiben stabil

Die Gefahr für die traditionelle Schweizer Presse kann man jeden Morgen in der Zürcher Straßenbahn besichtigen: Die meisten Passagiere sind in ein Exemplar einer kleinformatigen Zeitung mit blauem Logo vertieft – die Gratistageszeitung „20 Minuten“. Andere Zeitungen sind dagegen kaum auszumachen. Ein Spalier aus aufgeschlagenen „20 Minuten"-Exemplaren dominiert den Fahrgastraum. Die Gratiszeitung ist zu einem selbstverständlichen Teil des öffentlichen Nah- und Pendlerverkehrs der Schweiz geworden.

Nahezu eine Million deutschsprachige Schweizer greifen inzwischen werktäglich zu dem Blatt, mehr als ein Fünftel der Bevölkerung. Binnen Jahresfrist konnte „20 Minuten“ die Zahl seiner Nutzer um rund 166000 steigern. Kein anderes Medium ist im letzten Jahr schneller gewachsen, keine andere Tageszeitung erreicht in der Schweiz eine größere Leserschaft. „20 Minuten“ wird derzeit rund um Zürich, Bern, Basel, Luzern, Zug und St. Gallen über das öffentliche Verkehrsnetz verteilt und hat eine Gesamtauflage von über 380000 Exemplaren. Im Jahr 2004 hat „20 Minuten“ aus dem Tamedia-Verlag eigenen Angaben zufolge einen Umsatz von 62 Millionen Schweizer Franken (40 Millionen Euro) erzielt. Für dieses Jahr rechnen Experten mit einem Gewinn von 30 Millionen Schweizer Franken (19 Millionen Euro). Damit gehört „20 Minuten“ zu den profitabelsten Zeitungen Europas.

Das Blatt gehört zu einem neuen Typ Tageszeitung, der Mitte der 90er Jahre als „Metro“ in Stockholm erfunden wurde – die kostenlose Schnelllese-Kompakttageszeitung für Pendler. Die inzwischen in vielen Ländern erfolgreiche Formel ist dabei stets dieselbe: sehr günstig produzierte, kurze nachrichtliche Texte, kostenlos verteilt und kompakt präsentiert; erreicht wird ein zumeist jugendliches Publikum.

Bislang haben die etablierten Schweizer Zeitungen durch „20 Minuten“ nur in überschaubarem Rahmen Leser und Auflage verloren. Man muss genau hinschauen, um die Veränderungen aus der Schweizer Leserforschung WEMF herauszulesen. So verlor die Schweizer Boulevard-Zeitung „Blick“ in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen in Zürich innerhalb von fünf Jahren rund ein Drittel ihrer Leser (von 14 auf neun Prozent). Die Qualitätszeitung „NZZ“ blieb bei rund 18 Prozent stabil. Die Regionalzeitung „Tages-Anzeiger" (Tamedia-Verlag) verlor von 43 auf 40 Prozent. Hingegen lesen nun täglich 55 Prozent „20 Minuten“.

Doch noch viel stärker werden die alt eingesessenen Titel durch die Gratiszeitungen im Anzeigenmarkt und im inhaltlichen Selbstverständnis herausgefordert. Im Anzeigenmarkt ist „20 Minuten“ mit aggressiven Preisen, neuen Werbeformaten und weit reichenden redaktionellen Kooperationen vorgeprescht: So können Anzeigenkunden nun auch die gesamte Titelseite belegen oder dort abziehbare Sticker platzieren. Bei gesponserten Artikeln zeigt sich die Redaktion sehr flexibel. Die so verwöhnte Werbewirtschaft fordert nun Ähnliches von der klassischen Presse. Für „20 Minuten“-Chefredakteur Marco Boselli passt eine teilweise enge Verbindung von Redaktion und Anzeigen auch gut zur Kultur seiner Zeitung: „Wir sind mit Sicherheit eine konsumorientierte Zeitung, die auch viel über entsprechende Themen schreibt.“ Inhaltlich verdrängt „20 Minuten“ das klassische Modell der umfassend informierenden Tageszeitung. Die Gratiszeitung schafft einen sich selbst genügenden Kosmos aus Kurz- und People-Nachrichten ohne Vertiefung, Kommentierung und substantielle Recherche. „20 Minuten kostet nichts – außer das eigene Niveau“ schimpfte kürzlich die Journalistin Daniele Muscionico von der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ). Auf den Vorwurf der Oberflächlichkeit reagiert Boselli, dessen Redaktion aus 45 Journalisten besteht, gelassen: „Niemand sagt, dass wir die NZZ ersetzen können, aber es gibt ein Bedürfnis nach kompakter, nachrichtlicher Information – und dem kommen wir nach." Als Reaktion auf den erfolgreichen News-Journalismus von „20 Minuten“ suchen nun auch andere Tageszeitungen der Schweiz nach Wegen, Nachrichten übersichtlicher und konziser darbieten können – neben vertiefender Hintergrund-Berichterstattung.

Nach dem Erfolg von „20 Minuten“ in der deutschsprachigen Schweiz gibt es seit Montag auch in der französischen Schweiz eine Gratiszeitung. Der dort führende Edipresse-Verlag hat in 44 Städten und Gemeinden die erste Ausgabe des „Le Matin Bleu“ verteilt. Und auch „20 Minuten“ des Tamedia-Verlags will sich nicht länger auf die deutschsprachige Schweiz beschränken: Von März an will die französischsprachige Variante „20 minutes“ in Genf und Lausanne auftreten.

Robin Meyer-Lucht[Zürich]

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