zum Hauptinhalt

Medien: Die Welt als Blog

Tagebücher, Videobotschaften, Melancholie und Politik: Ein Besuch bei Berliner Internet-Aktivisten

Ein Souterrain in einer Kreuzberger Ladenetage. Von hier aus will Johnny Haeusler „Spiegel“, „FAZ“ und RTL Konkurrenz machen. Haeusler betreibt das Weblog „Spreeblick“; Weblogs werden Internet-Tagebücher genannt. Johnny Haeuslers „Spreeblick“ gleicht einer modernen Wunderkammer: Neben persönlichen Texten gibt es Videobotschaften, Audiodateien, Diskussionen oder Links zu interessanten Websites. Haeusler vergleicht „Spreeblick“ mit einem eigenständigen Fernseh-, Radio- und Publikationskanal. „Die Leute mögen uns wegen der Authentizität und der subjektiven Art, mit der wir unser Angebot zusammenstellen“, sagt er und verweist auf 6000 bis 12 000 Leser am Tag.

Mit 1797 Verweisen von anderen Sites belegt der „Spreeblick“, der jüngst in der Kategorie „Spezial“ mit einem „Grimme Online Award“ ausgezeichnet wurde, derzeit Platz zwei der deutschen Blogcharts. Der Erfolg eines Blogs ist eine Frage der Verlinkung: Je öfter auf ein Blog verwiesen wird, umso etablierter ist es. Das „Bildblog“, das die Berichterstattung der „Bild“-Zeitung kritisch begleitet, liegt mit 2233 Verweisen auf Platz eins. Obwohl der „Spreeblick“ kein Nachrichtenblog ist, greift es jedes wichtige Thema auf. Schon im Mai 2005 diskutierte Haeusler ausführlich über die „Du- bist-Deutschland“-Kampagne. Die Band „Grup Tekkan“ verdankt ihren Erfolg ebenfalls Haeusler und der Blogosphäre. Nachdem deren schräges Video „Wo bist Du, mein Sonnenlicht“ in zahlreichen Blogs verlinkt wurde und es sich allein beim „Spreeblick“ etwa eine Million Leser angesehen haben, wurde die Band zu Stefan Raabs Show „TV Total“ eingeladen. Inzwischen haben die Jungs einen Plattenvertrag.

Ein Café im Osten Berlins. Madame Modeste, die das gleichnamige Blog schreibt, zieht an einer Zigarette. „Viele Leser suchen eine Heimat. Sie wollen sich ein Stück Welt zurückholen“, sagt sie. Doch Blogs stillen auch den Voyeurismus, die Lust, anderen Menschen beim Leben zuzusehen. Damit das funktioniert, muss auch der Blogger etwas preisgeben: „Ein gewisser Exhibitionismus gehört zum Bloggen dazu“, erklärt Modeste. Doch diese Scheinintimität ist ein Problem. Modeste will aus beruflichen Gründen anonym bleiben. Sie ist 29 Jahre alt und wohnt in Mitte. Mehr will sie nicht verraten. Ihren Blog gestaltet sie anonym: Über Privates, Kollegen oder Liebesbeziehungen schreibt sie gar nicht, und die Personen, die sie erwähnt, sind als reale Personen nicht zu identifizieren.

Modeste, die bereits einen Text in Christian Krachts Zeitschrift „Der Freund“ veröffentlicht hat, schreibt ein literarisches Blog. Sie stellt nur Texte ins Internet: Geschichten aus dem Alltag, über Familie, Freunde, historische Themen. Sie will unterhalten und sich literarisch ausprobieren, bietet aber keine echte Intimität. Manche Leser können das nur schwer verstehen. Als der Leser mit dem Namen „King Fisher“ Modeste wegen eines melancholischen Beitrags aufmuntern wollte, stellte sie klar: „Dieses Blog ist ein Unterhaltungsangebot und sollte ungefähr so rezipiert werden wie ein gut aussehendes gediegen-amüsantes Magazin, das bei Ihrem Zahnarzt im Wartezimmer ausliegt“. Balzacs Roman „Modeste Mignon“ gab dem Blog seinen Namen: Übersetzt heißt „modeste“ bescheiden, sittsam – genau so soll das Blog sein. „Ich biete kein knalliges Unterhaltungsangebot“, erklärt Modeste, „ich nehme mir das Recht heraus, lange Sätze zu schreiben.“

Kurzer Ortswechsel. Bleiben wir in Berlin-Mitte. Ein Linux-Fachgeschäft in der Tucholskystraße. Hier betreibt Markus Beckedahl sein Blog „Netzpolitik“, das sich mit den Auswirkungen der Informationstechnologie auf Politik und Gesellschaft beschäftigt. Das Blog, auf das täglich 7000 bis 8000 Leser klicken, tritt für den „Erhalt und Ausbau von Bürgerrechten im digitalen Zeitalter“ ein, so heißt es im Impressum. Seine Themen reichen von Datenschutz über Urheberrechte bis zu Zensur im Internet und biometrischen Pässen. „Ich betreibe digitalen Umweltschutz“, beschreibt Beckedahl sein Konzept. Der 29-Jährige hat damit Erfolg: 2005 wurde „Netzpolitik“ von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ mit einem der „Freedom Blog Awards“ in der Kategorie „Bestes internationales Blog“ ausgezeichnet.

Der US-Internetdienst „technorati“ schätzt, dass etwa jede Sekunde ein neues Blog gegründet wird und sich die Zahl der Blogs alle fünfeinhalb Monate verdoppelt. Derzeit zählt „technorati“ 43,1 Millionen Blogs – Deutschland sei bezogen auf die Zahl der Blogs noch ein Entwicklungsland, sagt Beckedahl. Während in den USA Blogs ein etabliertes Medium sind, gibt es in Deutschland etwa 200 000 bis 300 000. Frankreich habe zehnmal mehr Blogs, in Polen gebe es bis rund 1,5 Millionen Blogs, schätzt Beckedahl. Wenn es in Deutschland eine Hauptstadt der Blogs gibt, dann ist es Berlin – allein aufgrund der Einwohnerzahl. Wie viele Blogs in der Hauptstadt geschrieben werden, kann Beckedahl nicht mit Gewissheit sagen. Er schätze ihre Zahl auf einige tausend. Markus Beckedahl sieht sich als klassischen „Citizen Journalist“: „Jeder, der das nötige Werkzeug hat, kann über die Themen schreiben, die ihm wichtig sind.“ Texte zu veröffentlichen und Leser zu finden, ist einfach geworden. Blogs seien ein Gewinn für die Demokratie, meint Markus Beckedahl: Keine Revolution komme sofort, aber „mit einem Blog hat jeder eine Stimme“.

Auch die Leser der Blogs haben eine Stimme: Durch die Kommentarfunktion kann jeder Leser seine Meinung aufschreiben. Blogs sind interaktive Medien. Autoren können mit ihren Lesern in direkten Kontakt treten. Etwaige Fehler werden nicht stillschweigend gelöscht, sondern für alle sichtbar korrigiert. Der Artikel, der über die Firma Jamba im „Spreeblick“ erschien, ist nur ein Beispiel dafür, was Blogs bewirken können.

Im Dezember 2004 veröffentlichte Haeusler eine Satire über Jamba und kritisierte dessen umstrittenen Verkauf von Klingeltonabonnements. Was als Satire gedacht war, endete als unbeabsichtigte Negativ-PR: „Der Artikel war der PR-GAU schlechthin“, sagt Haeusler. 284 Mal wurde der Artikel kommentiert; gibt man heute „Jamba“ bei Google ein, erscheint er auf Position zwei. Dabei hatte Haeusler nicht Unrecht. Im Juni 2005 prüfte die Kommission für Jugendschutz 53 Werbespots für Klingeltöne. Vorläufiges Ergebnis: Kein einziger entsprach den Regeln.

Blogs im Internet:

www.spreeblick.de

http://modeste.twoday.net/

www.netzpolitik.org

Kathrin Klette

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false