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Medien: Die Zeitung der Vermissten

Ein Viertel der Belegschaft tot, die Druckmaschine in tausend Trümmern: Banda Acehs Blatt „Serambi“ ein Jahr nach dem Tsunami

Jeder verarbeitet das Trauma auf seine Weise. Rosnani Husen erzählt davon. Als ob jedes Wort Distanz schaffen könnte zu dem, was geschah. Sie erspart sich und anderen keine Details. Die schlanke Frau Ende vierzig mit dem in Aceh üblichen Kopftuch arbeitet seit 14 Jahren bei „Serambi“, der größten Tageszeitung in der indonesischen Provinz Aceh. Die Redakteurin der Sonntagsausgabe erzählt vom Abend des 25. Dezember 2004, von ihrer letzten Schicht vor dem Tsunami. Es war stressig, wie immer kurz vor Redaktionsschluss. Nebenan wurden bereits die ersten Seiten der Ausgabe des 26. Dezember gedruckt.

Um Mitternacht war Feierabend. „Viele Kollegen übernachteten im Büro. Während des Kriegsrechts in Aceh gab es eine Ausgangssperre. Da hat sich das so eingespielt“, sagt die Journalistin. Andere gingen nach Hause. So auch Rosnani, die wie die meisten Indonesier mit ihrem Vornamen angesprochen wird. „Irgendwas war seltsam an diesem Abend“, sagt sie. Mit einem beklemmenden Gefühl habe sie noch zurück aufs Büro geschaut. Heute ist sie sicher, dass sie eine Vorahnung hatte. Am Morgen darauf kurz vor acht Uhr erschütterte das viertstärkste Erdbeben, das weltweit je gemessen wurde, die Region. Das zweistöckige Verlagshaus stürzte teilweise zusammen. Zwanzig Minuten später erreichte der Tsunami das Haus, obwohl es drei Kilometer vom Strand entfernt ist. Die Welle riss die riesige Druckmaschine in Stücke. Im Erdgeschoss blieb nichts zurück außer einer dicken Schicht aus Schlamm und Trümmern.

Rosnani ist die einzige Überlebende der Samstag-Abend-Redaktion. Noch heute kann sie jedes Gespräch wiedergeben, das sie am Vorabend des Tsunami mit den Kollegen geführt hat. „Der Chef vom Dienst, Erwiyan Safri, hatte seinen kleinen Sohn dabei. Der hatte Angst und wollte partout nicht im Büro übernachten. Also sagte ich dem Vater, er solle nachgeben und nach Hause gehen.“ Rosnani weiß nicht, wie sich Safri schließlich entschied. Nur, dass er nicht überlebt hat. So wie 53 weitere Kollegen der 212 „Serambi“-Mitarbeiter, die entweder im Verlagsgebäude waren oder zu nahe dran wohnten.

Rosnanis erster Impuls nach dem Beben am Morgen des 26. Dezember war: Du musst sofort ins Büro. Doch dann kamen die ersten Menschen aus den Nachbar-Vierteln angelaufen. Sie waren klatschnass, schrieen und weinten. „Wir alle haben nicht im Traum an einen Tsunami gedacht. Ich hab mich nur gefragt: ,Wo soll denn das Wasser herkommen?’ Später wurde mir klar, dass Banda Aceh in seiner bisherigen Form aufgehört hatte zu existieren.“ Von den 260 000 Einwohnern der Provinzhauptstadt hatte mehr als ein Fünftel nicht überlebt.

Heute sitzt Rosnani im Notbüro des Blattes: Es sind zwei Räume, nur mit einer Sperrholzwand abgeteilt. Es gibt nur vier Computer, die Reporter müssen manchmal Schlange davor stehen. Sie alle sind Besseres gewöhnt. „Serambi“ war ein erfolgreiches Blatt, besonders im Wahljahr 2004, das viele Anzeigen gebracht hatte. Doch in den Wochen nach dem Unglück war keine Zeit für Prestige. „Um uns herum sah es aus wie Weltuntergang. Es gab kaum Essen, kein Benzin“, sagt Rosnani. Und kaum Informationen für die Überlebenden. Radiostationen waren zerstört, viele Telefone tot, und ohne Strom konnte man kein Fernsehen schauen.

Schon am 1. Januar 2005 erschien „Serambi“ wieder. Damals gab es noch nicht einmal die heutige Notredaktion. Der Laptop des Druckereichefs war der einzige Computer. Jeden Tag wurde eine Diskette in das sechs Autostunden entfernte Lhokseumawe gebracht, wo die achtseitige Notausgabe ihr Layout bekam und gedruckt wurde. In Lhokseumawe gab es eine zweite Druckmaschine und noch genügend Papiervorräte, so dass „Serambi“ zunächst gratis verteilt werden konnte. Die Leser hatten vor allem Angst vor neuen Beben, vor Seuchen, die sich ausbreiten könnten. Von diesen Themen und vom Schicksal der Überlebenden handelten die ersten Artikel. Vermisstenanzeigen füllten monatelang die Seiten.

Rosnani zählt die Familienmitglieder auf, die gestorben sind. Es sind dreizehn, „zumindest was die nahe Verwandtschaft angeht“. Tagelang war sie wie gelähmt, dann stürzte sie sich in die Arbeit. „Ich hab beim Recherchieren geweint, ich hab beim Schreiben geweint. Um kurz darauf festzustellen, dass es Gebiete gibt, in denen es noch viel schlimmer aussieht“, erzählt sie. Wie viele ihrer Landsleute zieht Rosnani Kraft aus ihrer Religion. „Ich glaube daran, dass Allah uns nur das auferlegt, was wir bewältigen können. Dass ich überlebt habe, heißt, dass ich stark genug bin, um weiterzumachen.“ Außerdem empfand sie es als Privileg, nicht untätig herumsitzen zu müssen. „Ich konnte während der Recherchen wenigstens nach meiner Familie Ausschau halten.“

Rosnani spielt der Reporterin Tonaufnahmen von Karaoke-Abenden vor, bei denen sie und ihre Verwandten sich gerne die Abende vertrieben. Keiner der Sänger lebt noch. Sie erzählt vom 16. Geburtstag von „Serambi“, der im Februar im Hof der alten Redaktion begangen wurde. An den Wänden hingen die Fotos der verstorbenen Kollegen. „Sogar unsere männlichen Kollegen haben die ganze Zeit geweint“, sagt sie. Das Erlebte habe sie zusammengeschweißt und auch andere Journalisten aus ihnen gemacht. „Wir achten jetzt mehr auf die menschlichen Aspekte von Geschichten, auf Details, die oft übersehen werden. Ich hab keine Motivation mehr, Sachen über offizielle Regierungszeremonien zu schreiben.“

Chefredakteur Sjamsul Kahar leitet die „Serambi“ seit ihrem Bestehen. „Die Solidarität ist heute unbeschreiblich groß“, sagt Sjamsul. „Früher war es manchmal schwer mit der Teamarbeit, Journalisten sind ja eher Einzelgänger. Seit dem Unglück ist die Arbeit und die Hilfe untereinander für meine Leute viel wichtiger geworden.“ Es sei vielleicht für Außenstehende schwer vorstellbar, ergänzt Rosnani, aber gerade nach dem Tsunami hätten sie sehr viel miteinander gelacht. „Jeder wusste, wie viel Trauer wir in uns tragen. Gerade deshalb mussten wir uns mit viel Arbeit und mit vielen Scherzen ablenken.“ Nachtschichten wurden zur Regel. Nur nicht zu früh nach Hause kommen, wo einem die Erinnerung bis in die Träume folgte. „Ich war schon immer gern Journalistin“, sagt Rosnani, „aber wie viel mir der Beruf bedeutet, habe ich erst in den Monaten nach dem Tsunami erfahren.“

Inzwischen erscheint „Serambi“ wieder in einem Umfang von 16 bis 20 Seiten – wie vor dem Tsunami. Mit 45 000 Exemplaren ist die Auflage sogar weit höher als damals. Zurzeit arbeitet die Redaktion an der Sonderausgabe zum Jahrestag des Unglücks am 26. Dezember, Kollegen vom American Press Institute und der „New York Times“ helfen mit.

Die Sondernummer wird in Banda Aceh gedruckt, wo es seit September wieder eine Druckmaschine gibt. Auch Ersatz für die verstorbenen Kollegen wird inzwischen wieder rekrutiert, aber das sei schwer, sagt Sjamsul. „Wer will schon in Aceh Journalist werden?“ Fast 30 Jahre befand sich die Region im Bürgerkrieg. Indonesiens Zentralregierung beutete die ressourcenreiche Provinz aus wie eine Kolonie. Die „Bewegung freies Aceh“ (GAM) kämpft für die Unabhängigkeit des nördlichsten Zipfels der Insel Sumatra. „Wir saßen immer zwischen den Stühlen. Die GAM setzte uns unter Druck und das Militär genauso. Wir wurden bedroht, unsere Autos wurden angezündet. Immer hieß es von der einen Konfliktpartei, wir schrieben für die andere.“

Im August wurde ein Friedensabkommen geschlossen. Das Militär wird schrittweise aus der Provinz abgezogen, die Rebellen der GAM geben ihre Waffen ab. Seitdem können Journalisten aus Aceh wieder freier berichten. Die Zeitung kann außerdem schon nachts aus der Druckerei gebracht werden, was vorher verboten war. Bald zieht die Redaktion in ein neues Verlagshaus. „Ist nicht so schick wie das alte, sieht eher aus wie ein Lagerhaus, aber dafür ist es erdbebensicher“, sagt Rosnani. „Das alte Büro mit den Bäumen drum herum und den vielen Erinnerungen ist sowieso nicht zu ersetzen.“

Anett Keller[Banda Aceh]

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