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Die Meinungsvielfalt im Internet wird von diversen Verschwörungstheorien begleitet.

© dpa

Netz-Verschwörungen: Der Wert der Meinung

Die Angst vor Verschwörungen ist groß, besonders, wenn es um so etwas Bedeutendes wie die Meinungsbildung im Internet geht.

„Haben hier Politiker den Fuß in die Tür bekommen, die gern bestimmte Bewertungen, also Stimmungen, nicht veröffentlicht sehen wollen?“, sorgte sich ein Leser von Tagesspiegel Online, als wir vor kurzem die Kommentarfunktion überarbeitet hatten und seither auf die Bewertungen von Lesermeinungen verzichten. Der Nutzer kann beruhigt sein, an der Unabhängigkeit von Tagesspiegel Online ändert sich nichts!

Als die Bewertungsfunktion vor vier Jahren eingeführt wurde, sollte sie dabei helfen, Meinungstendenzen besser wiederzugeben. Hinzu kam später, dass wir mit der Funktion besonders gut geschriebene Kommentare durch die Würdigung in einer „Best-of-Liste“ hervorheben wollten. Doch genau wie jetzt bei der Abschaffung der Funktion hatte es auch zu deren Einführung Proteste gegeben, ja sogar Boykottaufrufe. „Total albern und kindisch, unter unserer Würde“, hieß es. Nahezu prophetisch schrieb ein Forist: „Ich befürchte eine wahre Klickschlacht mit Ergebnissen, die nichts über die Qualität der Kommentare aussagen, sondern über politische Mehrheitsverhältnisse der jeweiligen Leserschaften.“

Tatsächlich erkannten vor allem die Trolle recht schnell das Potenzial der neuen Funktion. Selbst vor Kondolenzbekundungen gegenüber Verunglückten oder Verstorbenen machten sie nicht halt und verteilten mit acht oder mehr Benutzerkonten negative Bewertungen, nur um mit Meinungsrivalen persönlich abzurechnen. Um den Missbrauch einzugrenzen, gab es fortan nur noch die Möglichkeit, positive Bewertungen abzugeben. Doch an dem Drang einiger Foristen, eigene Meinungen mit unfairen Mitteln zu untermauern, änderte das wenig.

Mittlerweile 97 Benutzerkonten

Mit der Zeit fiel auf, dass zunehmend Benutzerkonten mit Spam-Mailadressen und Benutzernamen, die durch blindes Hacken auf der Tastatur sinnfreie Begriffe ergaben, immer häufiger ins System einliefen. Ein ganz besonderer Nutzer hat es, mit bemerkenswerter Ausdauer, mittlerweile zu seinem 97. Benutzerkonto gebracht und wird sicherlich auch nach dem 100. Jubiläumskonto nicht müde sein, unsere Community aufzusuchen. Vor Missbrauch kann man sich leider nicht immer schützen, aber die Aufmerksamkeit einer Debatte verstärkt auf das geschriebene Wort zu lenken, anstatt auf potenziell manipulierte Bewertungen, erscheint uns nur sinnvoll.

Vorhersagen wie „Der Anreiz zum Kommentieren wird in einen scheinbar luftleeren Raum hinein – ohne jegliches Feedback – nicht nur quantitativ leiden“ haben sich allerdings nicht bestätigt. Weshalb auch? Die Bewertungsfunktion hat sich weder als ernst zu nehmender Meinungsbarometer bewährt, noch hat sie die Debatte inhaltlich bereichert. Man braucht keine Verschwörungen, um die Konsequenzen aus diesen Einsichten zu ziehen.

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