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Viktor Mayer-Schönberger fordert, dem Netz das Vergessen technisch beizubringen.

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Pro und Contra: Selbstkontrolle und digitales Vergessen

Muss das Netz das Vergessen lernen, oder müssen wir mit dem Erinnern umgehen lernen? Ein Pro und Contra darüber, weshalb technisches Vergessen unabdingbar ist - oder warum wir längst darüber hinaus sind, ein solches Instrument zu brauchen.

Anfang Oktober ist das Buch "Delete – Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten" von Viktor Mayer-Schönberger erschienen. Der Politikwissenschaftler lehrt an der Universität von Singapur und wurde bekannt, weil er einst eines der erfolgreichsten Anti-Viren-Programme entwickelte. Später forschte er in Havard zu Fragen des Internetrechts. In seinem neuen Buch fordert er nun, dem Netz das Vergessen technisch beizubringen. Karsten Polke-Majewski und Kai Biermann argumentieren in einem Pro und Contra, weshalb dieses technische Vergessen unabdingbar ist beziehungsweise warum wir längst darüber hinaus sind, ein solches Instrument zu brauchen.

Pro: Das Netz muss das Vergessen lernen

Das Problem beginnt dort, wo der Mensch zu faul zum Denken wird. Wo er nicht mehr selbst entscheiden mag, was es wert ist, erinnert zu werden und was nicht. Wo er die Gestaltung seiner Gegenwart der Maschine überlässt, statt sich der eigenen Verantwortung für sein Leben zu stellen.

Das Internet ist vielen zu einem unendlichen Lagerraum für persönlichen Kram geworden. Man wirft alles unbesehen hinein, ohne einen Moment lang darüber nachzudenken, was es eigentlich wert ist. Private Bilder, E-Mails, Videos, Twitter-Meldungen und Blogeinträge schweben nun irgendwo in den digitalen Wolken des Netzes. Und dann wundert man sich, wenn einem etwas davon unerwartet hart auf die Zehen fällt, im schlimmsten Fall im Personal- oder Bewerbungsgespräch.

Das Netz, so viel wissen wir nicht erst seit heute, speichert alles. Die digitalen Speicher haben die Gesellschaft ihrer Fähigkeit zum Vergessen beraubt und ihr stattdessen ein umfassendes Gedächtnis verliehen, schreibt Viktor Mayer-Schönberger. Ein Gedächtnis, das unfrei macht, weil jeder unserer Schritte, jeder Gedanke kontrollierbar wird.

Es fängt damit an, dass für die digitale Technik Bedeutung keine Kategorie ist. Ihre Speicher- und Suchfunktionen unterscheiden noch kaum zwischen wichtig und verzichtbar. Wenn man sich aber an alles gleichermaßen erinnert, geht der Sinn des Gedächtnisses verloren. Denn eigentlich wird das, woran wir uns erinnern, zum Baustein unserer Identität. Wenn Vergangenheit jedoch wahllos aufbewahrt wird, verliert sie ihren individuellen Wert. Schlimmer noch: Sie lähmt uns, weil wir uns verlieren auf der Suche nach dem, was wirklich wichtig ist.

Wer hat sich noch nie hilflos durch die Fülle seiner E-Mail-Ordner geklickt auf der Suche nach der neuen Telefonnummer der besten Freundin? Auf dem Weg zu dieser einen wichtigen Erinnerung trifft man leicht auf hundert unwichtige, nie gelöschte. Im schlimmsten Fall sind auch noch Relikte eines alten, längst vergangenen Streits dabei, der so wieder ins Bewusstsein gespült wird. Gleiches gilt für Digitalfotos. Im Urlaub brüstete man sich noch, fünfhundert Mal den Auslöser gedrückt zu haben. Zu Hause löscht niemand, was überflüssig ist. Das produziert nicht nur ein unglaubliches Durcheinander. Zwischen den vielen schlechten Bildern geht auch das eine schöne verloren, welches den Zauber jenes Moments erhalten sollte.

Und es kommt noch schlimmer. Mit jedem Tag nimmt der Grad der Vernetzung zu. Selbst wenn ich ein Bild von mir lösche, kann es längst hundertfach kopiert irgendwo im Internet zu finden sein. Ein anderer baute es in seine Fotoalben ein und kommentierte es – oft nicht so, wie ich es mir wünsche.

Kann man denn gar nichts tun? Doch, es wäre sogar recht einfach. Man könnte dem Netz das Vergessen nämlich leicht beibringen, schreibt Mayer-Schönberger. Alle Informationen, die im Internet zu sehen sind, organisieren sich als einzelne Dateien. Fotos und Filme werden hochgeladen, Texte in einzelnen Bausteinen abgespeichert. Diese Daten haben sogenannte Metainformationen, die man nicht sieht, die aber beispielsweise den Umfang oder das Datum ihrer Veröffentlichung angeben. Oder ein Verfallsdatum! Informationen, die man länger oder für immer erhalten will, müsste man dann aktiv sichern. Es entstünde eine neue Form der Konzentration und Hierarchie von gespeichertem Wissen. Banales verschwände, Wichtiges bliebe erhalten.

Der Gedanke ist nicht ungewöhnlich. Digitale Akten des Staates von seinen Bürgern unterliegen beispielsweise den gleichen Archivierungs- und Datenschutzvorschriften wie analoge und müssen nach bestimmten Fristen vernichtet werden. "Sehr gut" oder "mangelhaft" – nach zehn Jahren ist die Abiturklausur dahin. Gleiches gilt für digital abgegebene Steuererklärungen. Auch sie müssen irgendwann vernichtet werden. Daraus ließen sich Standards entwickeln für Soziale Netzwerke, für öffentlich zugängliche Datenbanken und Suchmaschinen. Dem Nutzer bliebe überlassen, was er erhalten sehen will und was nicht.

Solche qualifizierte Erinnerung, wie Mayer-Schönberger es nennt, ist nicht nur wichtig für das Individuum. Eine Fortentwicklung unserer Zivilisation ist anders schwer vorstellbar. Denn Erinnern ist kein mechanischer Akt. Während wir uns erinnern, konstruieren wir die Vergangenheit neu und gewinnen daraus Erkenntnisse für die Gegenwart. "Die Vergangenheit, die im digitalen Gedächtnis abgespeichert ist, verändert sich hingegen nicht", schreibt Mayer-Schönberger. "Es ist absehbar, dass diese beiden Fassungen – die Vergangenheit, die im digitalen Gedächtnis abgespeichert ist, und die dynamischen Erinnerungen in uns – irgendwann kollidieren."

Nun könnte man argumentieren: Vergessen ist doch nie ein aktiver Akt. Wer mag schon im Moment des Schaffens eines Gedankens, eines Bildes, eines Textes darüber entscheiden, wann das gerade Gewirkte wieder vergehen soll? Doch das stimmt nicht ganz. Als man noch Filme zum Entwickeln brachte, standen die Kunden vor dem Tresen des Fotogeschäfts und sortierten jene Bilder aus, die sie nicht haben wollten. Zugegeben, man musste sie auch nicht bezahlen, wenn man sie da ließ. Die Glückwunschkarten vom vorletzten Geburtstag landen jedoch ebenfalls irgendwann im Müll; bis auf jenen der Liebsten. Genauso wie die Mathearbeiten aus der dritten Klasse, die zerfledderten Comichefte, das Garantieheft des längst kaputten Walkmans.

Vergessen ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Sie lässt uns vergeben, anderen und uns selbst, und sie schafft Raum, die Welt kreativ zu gestalten. Neues entsteht nur dort, wo Altes stirbt. "In Wirklichkeit sind wir es, die das Vergessen erschwert haben, und es liegt an uns, dies zu verändern", schreibt Mayer-Schönberger. Sein technischer Vorschlag soll die Nutzer dazu ermächtigen, selbst darüber zu entscheiden, wie sie in Zukunft leben wollen.

Das Contra von Kai Biermann lesen Sie auf Seite 2.

Contra: Mit dem Erinnern umgehen lernen

Wir brauchen digitales Vergessen, fordert Viktor Mayer-Schönberger. Aber stimmt das? Ist die Forderung nicht nur Ausdruck einer Hilflosigkeit? Ist seine These, das Internet erinnere alles und vergesse nichts, nicht sogar falsch?

Ja, Vergessen erfüllt eine wichtige Funktion: Der Gedanke, dass jeder unserer Schritte, jedes unserer Worte auf ewig wiederholt und zitiert werden könnte, macht unfrei. "Wollen wir wirklich eine Zukunft, die niemals mehr vergibt, weil sie nicht vergisst?", fragt Mayer-Schönberger.

Nein, so eine Zukunft wollen wir nicht. Wir würden uns selbst zensieren – wenn diese Erinnerung denn tatsächlich so absolut wäre.

Das ist sie aber nicht. Unser digitales Erinnern ist nicht total. Es gibt ein Vergessen: leere Links, vergessene Blogs, abgeschaltete Server, geschlossene Archive, gelöschte Kommentare, von Klagen durchlöcherte Archive. Dazu kommt der digitale Tod: Wenn Firmen sterben, gehen auch ihre Inhalte verloren. Wenn beispielsweise ein Unternehmen aufgibt, dass Links zur einfacheren Verwendung auf Twitter kürzt, versteht seine Kürzel niemand mehr. Die Links sind dann kaputt, der einst verlinkte Inhalt nicht mehr zu finden, nicht einmal mehr zu identifizieren. Hinzu kommt die Flüchtigkeit: Viele Datenbanken generieren ihr Wissen dynamisch. Erst eine gezielte Anfrage bringt es hervor. Für Suchmaschinen bleibt es verborgen.

Manche dieser Hürden werden von Google und Bing, Ixquick und Metager schrittweise überwunden, andere nicht. Neue wachsen, beispielsweise Bezahlschranken und bewusst hinter Mauern versteckte Communitys.

Was aber Suchmaschinen nicht finden, weil sie es nicht finden können, existiert nicht. Auch wenn es irgendwo im Datenraum treibt. Das Phänomen hat sogar einen Namen: dark web oder hidden web. Darin sind all die Dinge, die wir einmal wussten, an die wir uns nun aber kaum noch erinnern können. Beispielsweise werden viele Websites regelmäßig überarbeitet. Das Design ändert sich, manchmal sogar die ganze Grundstruktur. Wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, weiß niemand mehr, wie die Seite vorher aussah. Wie in unserem Kopf, ist auch das vergessene Wissen im Netz der ungleich größere Bereich. Wer vergessen werden will, kann außerdem seinen Namen ändern, wie der Google-Chef Eric Schmidt im Scherz vorschlug. Er kann aber auch den Crawlern der Suchmaschinen den Zutritt zu seinen Seiten verwehren.

Es stimmt, das Netz merkt sich viel. Doch wir lernen längst, damit zu leben. Der Leitsatz: "Google niemanden vor dem ersten Date" ist ein Beispiel dafür. Wir wissen, dass uns zu viel Wissen schaden kann. Aber nur, wenn wir es auch abrufen.

Das mag verrückt klingen. Uns galt bisher der Grundsatz der Datenvermeidung als bester Schutz vor Überwachung und Nacktheit. Doch Daten vermeiden zu wollen ist angesichts einer Welt, in der bald jedes Ding Informationen sammelt und speichert, ein vergeblicher Ansatz. Längst ist es auch unserer Kontrolle entzogen, ob wir uns im Netz wiederfinden wollen. Das Internet ist nicht mehr freiwillig, andere schreiben dort über uns, markieren uns auf ihren Bildern, gestalten unser Image, wenn wir es nicht tun.

Doch ist das nur eine Seite. Denn je mehr Daten vorhanden und zugänglich sind, desto stärker merken wir, wie sehr wir von ihnen profitieren. Den amerikanischen Journalistikprofessor Jeff Jarvis mag man für verrückt halten, wenn er die komplette Geschichte seiner Prostataoperation ins Netz stellt. Aber er hat nicht ganz unrecht, wenn er sagt, nur so böte sich die Chance aufzuklären und die, dass andere mit demselben Problem nützliche Informationen finden – auch er habe Hilfe bekommen, nachdem er seine Geschichte erzählt habe.

Jarvis geht sogar so weit, dass er es als Diebstahl am Gut der Öffentlichkeit begreift, dieser Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten. Das muss man nicht teilen. Klar aber ist: Unsere Krankheitsgeschichten zu posten, kann nützen, uns und anderen. Denn dank solcher Datensammlungen lassen sich neue Zusammenhänge finden, möglicherweise neue Ursachen für alte Störungen entdecken.

Offene Daten nützen. Sie schaffen Transparenz und machen die Gesellschaft offener. Kritiker wie der Chaos Computer Club ergänzen diesen Satz mit der Forderung: Private Daten schützen. Sie tun gut daran. Auch Mayer-Schönbergers Idee eines Verfallsdatums ist schlau. Doch eher im Sinne einer Bewusstseinsbildung, denn als technisches Instrument.

Was wir wirklich brauchen, ist eine Ethik der Datenabfrage. Wir brauchen Selbstkontrolle.

Jedes Kind wächst mit dem Satz auf: "Das tut man nicht." Der Satz ist nicht perfekt, gesellschaftliche Gebote werden immer wieder übertreten. Warum sonst morden wir einander? Doch dieser simple Satz ist noch immer der beste Schutz vor uns selbst.

Die digitale Technik hat Nachteile, so wie jede andere auch. Wir müssen lernen, damit umzugehen. Niemand käme heute noch auf die Idee, mitten auf einer vielbefahrenen Straße herumzuspazieren. Als der Verkehr aus Handkarren und einem gelegentlichen Reiter bestand, war das durchaus üblich. Inzwischen aber haben wir gelernt: So etwas tut man nicht.

Quelle: Zeit Online

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