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Es scheint, als hätte Anders Behring Breivik bekommen, was er wollte: Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für sein "Werk".

© dpa

Terror-Pamphlet: Wie die Onlinewelt auf das "Manifest" reagiert

Menschen suchen Antworten, Medien wollen Aufklärung - im Umgang mit dem wirren Pamphlet des norwegischen Attentäters hat die Internetgemeinde verschiedene Strategien entwickelt: verlinken, vermeiden, verfremden.

Zuerst schien das "Manifest" des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik dazu geeignet, Fragen zu beantworten – vor allem die Frage nach dem "Warum"? Die einfachste Antwort lautete natürlich: Er ist wahnsinnig. Mittlerweile weiß man, dass die wahre Antwort um ein vielfaches grausamer ist. Der Anschlag war nicht nur ein Anschlag, sondern auch eine makabere Marketingaktion. 

In seinem Pamphlet beschreibt Breivik, wie er neun Jahre und 300 000 Euro in die Umsetzung seines Plans investiert hat. Das alles sei aber "kaum der Rede wert" angesichts der Opfer, die im Zusammenhang mit der Verbreitung dieser Schrift gemacht werden würden - der "eigentlichen Marketingaktion."

Das „Manifest“ hat eine neue, eine drängende Frage aufgeworfen: Wie geht man mit einem solchen Dokument um? 

Dass sich das Dokument nach dem Doppelanschlag rasend schnell im Netz verbreitete, war quasi ein Naturgesetz. Breivik wusste das. Wie also gingen die Medien damit um?

Eine große Rolle kommt wieder einmal den sozialen Netzwerken zu, vor allem Twitter, Facebook und Googleplus. Der Norweger Raymond Kristiansen beispielsweise wurde nach dem Bombenanschlag am Freitag quasi über Nacht einer der meistgelesenen Googleplus-Nutzer der Welt. Mit seinen Status-Updates versorgt der Projektmanager über 2400 Follower regelmäßig mit Informationen aus norwegischen Medien und Blogs. Er übersetzt Texte ins Englische, gibt Videointerviews und teilt seine Gedanken mit der Community. Für ihn sei das eine Form der "Therapie", sagt er.

Als bekannt wurde, dass der Attentäter vor dem Massaker ein "Manifest" veröffentlicht hatte, war Kristiansen einer der ersten, der darüber schrieb: "Ich werde nicht darauf verlinken, andere werden das tun. Es ist eine Reihe von Hassreden, die so schrecklich sind, dass ich es kaum aushalte. Ich nehme an, der Punkt ist: Dieser Kerl will Öffentlichkeit, und wir haben ihm geholfen. Ich habe ihm geholfen, genauso wie die Medien. Ich weiß nicht, ob ich mich schuldig fühlen soll oder nicht. Einige Leute werden sagen: 'Schweigt ihn tot', aber das ist kaum machbar, wenn ein Kerl rumrennt und fast 100 Leute umbringt. [...] Wir müssen darüber reden. Immer und immer wieder. Als eine Nation hier in Norwegen, genauso wie mit unseren Freunden aus dem Ausland. Wir müssen lernen. Aber es wird ein langer Prozess."

Nur wenige deutschsprachige Medien haben am Wochenende direkt auf das PDF-Dokument verlinkt, darunter Tagesspiegel.de und die Wiener Tageszeitung „Der Standard“. In anderen Redaktionen hat man sich dagegen entschieden. Eine Mitarbeiterin von "Welt Online" begründet die Entscheidung so: „Das wäre, als würden wir sagen: Im Internet gibt es Anleitungen zum Bombenbau, um dann darauf zu verlinken.“

Klar ist: Kein Mensch mit einem Internetzugang braucht die traditionellen Medien, um einen Einblick in die Psyche des Attentäters zu bekommen. Wer sucht, der wird schnell fündig. Die Stichwörter „Breivik“ und „Manifest“ bei Google einzugeben, genügt. In Foren und Blogs verbreitet sich das PDF-Dokument. „Wir haben uns dazu entschlossen, das Dokument hier zum Download anzubieten, da wir es für ein zeitgeschichtliches Dokument halten, das zeigt, wie krank und wirr der Attentäter wirklich war oder ist“, heißt es beispielsweise in dem Weblog bullion-investor.net

Forenuser fragen sogar nach Übersetzungen ins Deutsche. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie geliefert wird. Das zum "Manifest" gehörende Video verschwand am Samstag zwar von der weltweit größten Videoplattform YouTube, tauchte aber kurze Zeit später auf anderen Webseiten wieder auf.

Den Zugang zu dem Dokument zu erschweren, zu verbieten, zu verhindern ist in Zeiten von Twitter und Co. aussichtslos. Das ist wohl einer der Gründe, warum sich Redaktionen und Online-Plattformen für die "Flucht nach vorne" entschieden haben.

Das Hackerkollektiv Anonymous geht gleich zum Angriff über. Mit der "Operation UnManifest" soll das Pamphlet des Attentäters nicht tot geschwiegen werden, sondern stattdessen massenhaft verbreitet werden - allerdings bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Die „Hacktivisten“ rufen dazu auf, die wirre Niederschrift zu verunstalten, mit sinnlosen Textpassagen anzureichern, Teile zu löschen, Bilder zu verfremden. "Tut damit, was immer ihr wollt", heißt es in dem Aufruf. Die Ideen Breiviks sollen so der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Wenn dann Original und Kopie nicht mehr auseinanderzuhalten sind, ist das Ziel erreicht: Das "Manifest" wurde als sinnentleertes Sammelsurium entlarvt.

Im Umkehrschluss bedeutet das möglicherweise auch: eine Analyse des Geschehens, ein Verstehen wird nicht mehr möglich sein – vorausgesetzt, das war es jemals.

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