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Zu PAPIER gebracht: Revolution geht anders

Martin Luther und Martin Luther King wären heute Twitter-Könige geworden. Die Frage ist nur: Hätten sie damit ebenso die Welt verändern können?

Martin Luther soll 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche genagelt haben. Der Inhalt war revolutionär, harsch kritisierte Luther den kirchlichen Ablasshandel. Die Aktion war revolutionär, denn die Thesen-Attacke war an die breite Öffentlichkeit gerichtet. Nicht umsonst hatte der entlaufene Mönch dem Volk aufs Maul geschaut.

Soll man sagen: Armer Martin Luther? Und armer Martin Luther King? Der Reverend musste kreuz und quer durch die USA hetzen, um seine Botschaft von der Gleichberechtigung der Farbigen zu verbreiten. Zwar waren Anfang der 60er Jahre Print, Hörfunk und Fernsehen längst verbreitete Massenmedien, doch King hatte in den Verlagshäusern und Sendern mehr Feinde als Freunde.

Die medialen Widrigkeiten haben weder Martin Luther noch Martin Luther King aufhalten können. Aus ihren Engagements wurden umfassende Bewegungen, Bewegungen, die die Welt und die Menschen bewegten.

Margot Käßmann, die Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands für das Reformationsjubiläum 2017, ist jüngst gefragt worden, ob sie Jugendlichen die Bedeutung der Reformation in einer Twitter-Botschaft, sprich in einem Tweet von 140 Zeichen erklären könne. Käßmann textete also: „Auch wenn alles schiefgeht, Gott sagt, dein Leben hat Sinn.“

In dieser Antwort sammelt sich sämtlicher Argwohn, ob ML und MLK mit den neuen Medien hätten umstürzlerisch wirken können. Was all den Tweets, selbst wenn sie im Verbund abgesetzt werden, abgeht, das sind Sprachgewalt, Rhetorik, Tiefe und Kontext. In der Twitter-Facebook-Welt müssen Prädikat-Subjekt-Objekt genügen, sie sind appellativ, mehr laut, ihr absoluter Wert ist auf die Neuigkeit begrenzt, die sie in sich tragen. Siehe die Käßmann-Sentenz. Sie ist richtig, sie ist falsch, sie bleibt im Rang eines Kalenderblatts hängen. Eine Aussage ohne Aussagekraft.

Martin Luther und Martin Luther King wären Twitter-Könige geworden. Sie hätten getextet und gepostet, bis die Tasten glühten. Und hätten jede Menge Kommentare, Re-Tweets, Anmerkungen, Anfeindungen erhalten. Und dann?

Soziale Medien sind der öffentliche Schauplatz des 21. Jahrhunderts. Auch da entscheidet, was gesagt, was mitgeteilt wird. Und doch ist da etwas, was noch entscheidender ist: Wer hat die Zeit, wer ist bereit, sich für die Botschaft hinter den 140 Zeichen zu interessieren, zu konzentrieren? Sich ins Universum der Thesen, der „I have a dream“-Rede aufzumachen? ML und MLK, sie waren arme Tröpfe, weil sie kein mobiles Publikum hatten, und sie wurden reich belohnt, weil sie das Volk für sich gefangen nehmen konnten.

Ohne Twitter, ohne Facebook. The medium is the message, hat der kluge Medientheoretiker Marshall McLuhan festgestellt. Was für eine Herausforderung.

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